Slawophile und Westler

Moskau, 2020

„Kein einziger brauchbarer Gedanke ist auf dem unfruchtbaren Boden unseres Vaterlandes erwachsen“, schrieb 1836 der russische Intellektuelle Petr Tschaadaew. „Wir gehören weder zum Osten noch zum Westen, haben weder die eine noch die andere Tradition. Wir leben gleichsam außerhalb der Geschichte, die allgemeine Erziehung des Menschgeschlechtes ist spurlos an uns vorübergegangen.“ Sein philosophischer Brief war ein Angriff gegen die reaktionäre Politik des Zaren Nikolaus I. Der ließ ihn auch prompt für verrückt erklären und zwang ihn, seine Vorwürfe in einer weiteren Schrift, der „Apologie eines Wahnsinnigen“, zurückzunehmen. Vollkommen unberührt von der Kritik Tschaadaevs sahen die konservativen Kräfte die Überlegenheit der Entwicklung Russlands im Lichte der „Heiligen Allianz“ als bestätigt an. Dieses Abkommen stellte den Sieg der zaristischen Selbstherrschaft über Napoleon in die Linie des Jahrhunderte alten Bundes mit der orthodoxen Kirche.

Tschaadaew freilich hatte eine Debatte ausgelöst, die selbst die reaktionäre Politik aufzuhalten nicht in der Lage war. Seit er das Thema der russischen Identität aufgeworfen hatte, war diese zweigeteilt: Die Intellektuellen spalteten sich in die Lager der „Slawophilen“ und der „Westler“. Die einen sprachen Russland die Aufgabe zu, die Welt durch den Zaren und die Orthodoxie zu retten, die anderen zogen die direkte Konsequenz aus den Ausführungen Tschaadaews und forderten eine Angleichung des Imperiums an Westeuropa in allen Bereichen des Lebens. Die Auseinandersetzung, die in den 40er Jahren begonnen hatte, setzte sich bis ins 20. Jahrhundert fort. Nihilisten, Utilitaristen, sogenannte Volkstümler und Sozialisten setzen die westlerische, der Schriftsteller Fjodor Dostoewski und der Philosoph Wladimir Solowjow die slawophile Tradition fort.

Dabei hatte Tschaadaew selbst die Synthese beider Positionen im Blick gehabt. Er schrieb: Die „Lage zwischen den beiden großen Weltteilen, dem Orient und dem Okzident hätte uns gerade befähigen sollen, die beiden großen Prinzipien der Vernunft, Phantasie und Verstand, in uns zu vereinen und in unserer Kultur die Geschichte des ganzen Erdballs zusammenzufassen“. Dieser Versuch der Synthese westlicher und östlicher Traditionen zu einer genuin russischen Identität wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem Teil der Intellektuellen unternommen. Philosophisch vorbereitet durch Solowjow, der die slawophile Tradition mit den Grundlagen des deutschen Idealismus zu verbinden versucht hatte, war das „Silberne Zeitalter“ vom westlichen Einfluss des Symbolismus ebenso geprägt wie dem Bemühen, dem aus Europa importierten Sozialismus eine russische Alternative zu bieten. Eine für die russische Geistesgeschichte kennzeichnende Wechselwirkung von Philosophie, Literatur, Religion und Geschichte gaben dieser Periode, in der Russland und Europa sich so nahe waren, ihre eigene Signatur. Westlicher Individualismus, die Grundrechte der Persönlichkeit und politische Demokratie sollten mit den russischen Traditionen der religiösen Gemeinschaft und der Anerkennung der eigenen geistesgeschichtlichen Leistungen verbunden werden. Die breit angelegte Entwicklung wurde freilich durch die Revolution 1917 jäh unterbrochen. Die Vielfalt der geistigen Strömungen fiel einer nunmehr gänzlich sozialistisch definierten Kultur zum Opfer. Sie geriet in der Sowjetunion wie auch im Ausland in Vergessenheit und wurde bis heute nur in wissenschaftlichem und kulturellem Umfeld wiederentdeckt.

Eine Rückschau aus politischer Sicht gibt es nicht, zu Unrecht, denn ist es doch vor 1917 für kurze Zeit gelungen, die beiden Modelle des russischen Selbstverständnisses zu verbinden. Eine Reduzierung allein auf die national-orthodoxe Tradition, wie sie von Seiten der offiziellen und Ideologen des Kreml betrieben wird, unterschätzt das emanzipatorische Potential des „Silbernen Zeitalters“. Dies könnte helfen, die gegenwärtigen Debatten um Identität und Geschichte auf eine liberale und pluralistische Grundlage zu stellen, ohne dabei die russischen Traditionen zu vergessen. Das wäre übrigens ganz im Sinne Tschaadaews.

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