Durch die Lappen gegangen
Für uns war der letzte Morgen der Jagd angebrochen, der Wolf hatte sich bisher nicht gezeigt und würde es auch nicht mehr tun. Dabei hatten wir mehrmals selbst seine Spuren im Pulverschnee gesehen. Weit weg kann er also nicht weit weg gewesen sein. Vielleicht hat er nachts die Lichtungen und Kreuzungen überquert, an denen wir tagsüber nach ihm Ausschau gehalten und uns das Warten mit den Geschichten vertreiben haben. Vielleicht ist er sogar um uns herum geschlichen, hat uns beobachtet und ein Auge auf uns gehabt.
Wir verbrachten noch einen weiteren Tag mit unseren belarussischen Begleitern bei weiterhin eisiger Kälte im Wald. Die Geschichten gingen ihnen nicht aus. Enttäuscht, dass sie uns das ganz große Abenteuer nicht hatten bieten können, erzählten sie heute von ihrem Alltag in einem Land, das mit 42 % Waldfläche bei ungefähr 9.000.000 ha eines der meist bewaldeten Staaten in Europa ist. „In den letzten 60 Jahren wurde die Waldfläche verdoppelt.“ Mit Daten und Fakten konnte besonders Stepan Stepanowitsch glänzen. „Weitere Aufforstungen sind geplant,“ fuhr er fort, „denn die Waldwirtschaft ist der größte Arbeitgeber im Land. Und auch die Tatsache, dass selbst abgelegene Gebiete des Landes mit Gaszentralheizung versorgt sind, also nicht auf den sprichwörtlichen Ofen angewiesen sind, schont den Wald, der in großen Teilen unter Naturschutz steht.“ Während er sprach, fiel mir ein, was ich von Lew gehört hatte, dem Mann meiner jungen Freundin Olga. Er arbeitete für eine kanadische Firma, die Staaten und Waldbesitzer in Fragen einer nachhaltigen Nutzung der Bestände berät. Von ihm wusste ich, dass Belarus mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatte wie Deutschland, darunter einer neuen Trockenheit und dem Borkenkäfer, beides Folgen des Klimawandels. Aber es gibt auch Unterschiede, da beide Länder auf zwei verschiedene Konzepte der Jagbewirtschaftung zurückblicken. Während bei uns eine klassisch intensive Waldbewirtschaftung vorherrschte, der Wald also genutzt, aber auch nachhaltig aufgeforstet wurde, galt das für die russische und frühe sowjetische Waldbewirtschaftung nicht. Hier wurde der Wald extensiv genutzt und anschließend sich selbst überlassen. Das konnte man sich leisten, weil einfach genug davon vorhanden war. Als dann nach dem Krieg schnell viel Holz benötigt wurde, hat man den Bedarf mit schnell nachwachsenden Bäumen, wie zum Beispiel der Kiefer, gedeckt. So konnte man die Waldfläche im Land von den verbliebenen 20 % auf 40% steigern. Die großflächige Anpflanzung in Monokulturen rächt sich heute durch eine höhere Anfälligkeit der Bestände. Allmählich aber beginnt ein Umdenken. Die Bewirtschaftung setzt wieder auf einen Mischwald, um die Herausforderungen der Trockenheit und Schädlinge, aber auch der zunehmenden Brandgefahr zu begegnen. Welche Baumsorten sich dafür am besten eignen, ist in Belarus wie in Deutschland ein viel diskutiertes Thema. Lew hatte argumentiert, die Douglasie sei zu aggressiv, da sie andere Bäume verdränge. Daher warb er für andere Sorten, die sich besser einfügen in den herkömmlichen Bestand wie die Roteiche oder Elsbeere. Auch hat die Birke in Belarus eine große Bedeutung. Während sich noch vor 10 Jahren alle gegen den für russische Wälder symbolträchtigen Baum ausgesprochen hatten, steht er aktuell höher im Kurs als Kiefern. Genau wie unsere Waldmenschen hatte mir Lew noch viel mehr erzählt, und auch er war in seiner Begeisterung für den Wald nicht zu bremsen.
Doch nicht nur Waldexperten und Jäger lieben ihren Wald, es gibt praktisch niemanden in Belarus, der nicht mehrere Tage, wenn nicht Wochen im Jahr im Wald verbringt, um Pilze zu suchen. Umso mehr Aufregung verursachte es, als der Präsident vor einigen Jahren große Waldflächen an das Emirat Qatar verpachtete, mit dem die Republik Belarus in vielen Bereichen kooperiert. Die insgesamt 25 Hektar sind heute Hochsicherheitsgebiete, mit Zäunen und Kameras umgeben und nicht mehr zugänglich. Unsere Jäger, aber auch viele meiner belarussischen Freunde und Bekannte sind empört über diesen, wie sie sagen, Ausverkauf des eigenen Landes.
Was den Urwald der Beloweschskaja Puschtscha betrifft, so war der belarussische Teil zuletzt 1991 im Fokus der Weltöffentlichkeit, als die Präsidenten Russlands, der Ukraine und Weißrussland, Boris Jelzin, Leonid Krawtschuk und Stanislaw Schuschkewitsch, in dem Dorf Wiskuli die Auflösung der UdSSR und die Gründung der Gemeinschaft unabhängiger Staaten, kurz GUS beschlossen. Ein Schlaglicht auf den polnischen Teil fiel im Winter 2017/2018, als Polen zu wirtschaftlichen Zwecken große Rodungen anordnete und diese mit der Borkenkäferplage begründete. Sogar die EU beschäftigte sich damit und drohte mit Sanktionen. Solche Momente politischer Aufmerksamkeit öffnen für kurze Zeit ein Fenster in die dunklen Wälder Weißrusslands. Auch unser Fenster schloss sich nun wieder. Morgen sollten schon die nächsten Jäger kommen – allerdings nur zur Wildschweinjagd, leichte Beute gegenüber dem Wolf. Jetzt erst verrieten uns unsere Begleiter, dass sie uns wie die Italiener gefürchtet hatten: Chaos bei der eigenen Reiseorganisation, und wenn nicht am ersten Tag erfolgreich geschossen wird, dann hagelt es Beschwerden. „Ihr habt uns überzeugt,“ lobten sie uns. „Und trinkfester seid Ihr auch“, fügten sie lachend hinzu. Darauf wurden einvernehmlich die letzten Flaschen geleert und eine Verabredung für das nächste Jahr getroffen. Auf dem Rückweg nach Minsk lieferten Igor und Marek, unsere Waldmenschen und Spurenleser, noch schnell einen von ihnen am Morgen erlegten Biber in einem Restaurant ab. „Ganz legal ist das nicht“, verrieten sie uns, „dafür aber eine Delikatesse und auch noch nützlich. Während die Städter nur an das Fleisch denken, nutzen wir auch die übrigen Teile des Bibers – das Fell, die Innereien, die Knochen und vor allem das Fett.“ Dieses Bibergeil genannte Extrakt, erklärten sie uns auf unsere fragenden Gesichter hin, wird aus den Drüsensäcken des Tiers gewonnen. Noch um 1850 war das ein häufiges und teuer bezahltes Arzneimittel, heute wird es vor allem als ein Bestandteil einiger Parfüms genutzt. Vor meinem inneren Auge sah ich einen putzigen Biber, der auf seinen Hinterbeinen sitzt, in den Pfoten ein Stück Holz, an dem er munter knabbert. Ich schüttelte das Bild ab und stellte fest, dass es noch viel zu lernen gab. Wenn wir es bisher nicht begriffen hatten, dann jetzt: Der Wald ist nicht romantisch, er ist Lebensraum und Nutzfläche, Natur eben. Um nichts in der Welt will hätte ich dieses Abenteuer missen wollen, und doch bin ich heilfroh, dass vor meinen Augen kein Wolf erschossen wurde.