Hermann Göring auf der Jagd

Tag fünf der Wolfsjagd. Wieder hieß es warten. Auch heute war das gleichbedeutend mit einem Kurs in Landeskunde. Zwischendurch rief Stepan Stepanowitsch immer wieder „in der Zentrale“ an, analysierte die Lage und wies wiederholt darauf hin, dass es keine Garantie gebe, dass der Wolf noch auftauchen würde – vermutlich, um von uns nicht festgenagelt und verantwortlich gemacht zu werden. Dass das ganze Unterfangen für uns einfach eine Freude und unvergessliche Erfahrung war – mit oder ohne Wolf, wollte ihm nicht einleuchten. Ob das mit selbstgebranntem Wodka besiegelte Versprechen, diese Jagd werde nicht ohne den Wolf beendet, tatsächlich eingehalten werden konnte, war also nach wie vor offen. Ich persönlich war davon überzeugt, dass niemand Kontakt mit dem Wolf aufgenommen hatte. Aber das wollte natürlich keiner hören, es sei denn, die Waldmenschen hatten genau das getan, und der Wolf hatte entschieden, dass wir nicht würdig waren, ihm gegenüberzutreten.

Die Zeit verging wieder mit Geschichten, heute rund um den Wald. Leise, liebevoll und wieder in einem russisch-belarussisch-polnischen Gemisch, erzählten uns Ales, Alexander und Stepan Stepanowitsch bei klirrender Kälte auf einer tief verschneiten Lichtung davon wie der Wald und die Menschen zu allen Zeiten eng verbunden waren. Schon im 18. und 19. Jahrhundert war der Bedarf an Holz groß. Es wurde für den Schiffs- und Straßenbau, für die Papierherstellung, Eisenbahnschwellen und Weinfässer gebraucht. Vor dem Ersten Weltkrieg schon waren die Vorräte knapp geworden. Die Ausbeutung der Wälder durch die deutschen Besatzer im Westen für die Kriegswirtschaft hinterließ nochmals folgenschwere Spuren. In den drei Jahren zwischen 1915-1918 wurden aus dem Gebiet des Oberbefehlshabers Ost, kurz Ober Ost, fünf Millionen Kubikmeter Holz geschlagen und nach Deutschland abtransportiert. Die Beförderung erfolgte auf den Flüssen, ganze „schwimmenden Wälder“ waren da unterwegs, Fichten, Tannen und Eichen, roh und bearbeitet, als ganze Stämme oder in Teilen. Die Flößer waren zum großen Teil Juden. Am Beispiel der Memel beschreibt Uwe Rada die Verschiffung der Baumstämme in Richtung Grodno und Wilna: „Man kann es so sagen: In jüdischer Hand war nahezu die ganze Wertschöpfungskette des Rohstoffs Holz an der Memel. Geschlagen von jüdischen Waldarbeitern, wurde es – neben den weißrussischen Plytahony und den litauischen Dziken – von jüdischen Flößern stromabwärts gebracht, von jüdischen Holzhändlern verkauft, weiter geflößt, und am Ende der Fahrt, zum Beispiel im Handelsstädtchen Ruß in Ostpreußen, fanden die Flößer bei jüdischen Wirtsleuten Kost und Logis.“

Nach der Ausbeutung im Großen Krieg 1914-1918 war die Aufforstung ein vorrangiges Ziel der Waldwirtschaft. Doch die nächste Katastrophe kündigte sich an, als Hermann Göring, seit 1934 Reichsforstmeister, Reichsjägermeister und Oberster Beauftragter für den Naturschutz des Dritten Reichs, zwischen 1935 und 1938 auf Einladung der polnischen Regierung mehrmals zur Jagd in der Beloweschskaja Puschtscha erschien. Offenbar war ihm das Jagdglück hold. 1937 jedenfalls wurden in dem Saal einer Jagdausstellung in Berlin, der nur seine persönlichen Trophäen zeigte, auch zwei Wölfe präsentiert. Die Besuche des Reichskommissars waren der Vorbote des Zweiten Weltkrieges, der die Wälder der polnisch-weißrussischen Gebiete erst durch die sowjetische, dann durch die deutsche Besatzung, abermals schwer beschädigte. Sie wurden zum Kampfplatz und zum Rückzugsort, sie boten Versteck, Material und Lebensmittel für die sowjetische Bevölkerung sowie Schutz für die Mordaktionen der Nationalsozialisten. All diese Eingriffe zerstörten die Natur nachhaltig, und doch kann die Rolle des Waldes für die Menschen im Krieg kann gar nicht überschätzt werden.

Die Partisanen nutzen ihn als Rückzugsraum für den Kampf gegen die Besatzer. Berühmt geworden sind die Bielski-Partisanen, eine Gruppe meist jüdischer Männer, Frauen und Kinder, die von den vier Bielski-Brüdern kommandiert wurden. Vor ein paar Jahren hat Daniel Craig einen dieser Brüder in dem Film Für meine Brüder, die niemals aufgaben verkörpert. Im Nordwesten des heutigen Staatsgebietes lebten sie praktisch unabhängig inmitten des dichten Waldes. Sie errichteten Hütten und Baracken, in denen Handwerker Reparaturen ausführten und Schulunterricht für die Kinder organisiert wurde, eine Synagoge und ein Lazarett zur Verfügung standen. Jagdbeute, Beeren, Baumfrüchte und Birkensaft dienten als Nahrung. So machten es landesweit auch andere Partisanenvereinigungen. Bis heute spricht die offizielle Geschichtsschreibung von der Partisanenrepublik Belarus, im Museum der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges lässt ein großer Saal den Kriegsalltag im Wald wieder auferstehen.

Um die Partisanennester buchstäblich auszuräuchern, wurden große Flächen von der SS niedergebrannt. Im ganzen Land wüteten die Erschießungskommandos der Nazis ganz besonders in der ländlichen Lebenswelt der Menschen, im Wald, an den Flüssen, in den Sümpfen und auf den Feldern. Diese dezentralen Aktionen verschafften ihnen eine große Sichtbarkeit und diente der Einschüchterung der Bevölkerung. Die Beloweschskaja Puschtscha rettete Göring höchstpersönlich, indem er sie zu seinem Jagdgebiet erklärte. Was ihn allerdings nicht davon abhielt, alle Bewohner vertreiben, erschießen oder in Ghettos bringen zu lassen. Über 100 Dörfer wurden zerstört. Sein Plan sah vor, in der unberührten Natur zu jagen sowie „germanische“ Tierarten und ausgestorbene Urrassen anzusiedeln.

Andernorts wählte man abgelegene Waldstücke als Vernichtungsorte aus, wie es im Wald von Blagowschtschina geschah. Dort wurden nahe dem Dorf Maly Trostenez bei Minsk 40.000-60.000 Menschen, darunter 22.500 Juden aus dem Reichsgebiet, erschossen, in Gaswagen erstickt und in Gruben verscharrt. Die Bauern der umliegenden Dörfer mussten Bäume fällen und abliefern. Diese dienten dann zum Bau der Massengräber, zur Errichtung einer Erschießungsgrube in dem nahegelegenen Zwangsarbeiterlager sowie zum Verbrennen der Leichen. Noch kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee kamen in einer Scheune auf dem Lagergelände 6.500 Menschen ums Leben. Die Opfer mussten sich auf Baumstämme stellen und wurden erschossen. Darüber kam wieder eine Schicht Baumstämme usw., bis der Haufen aus Leichen und Stämmen schließlich angezündet wurde.

Der „Hungerplan“ als Teil der deutschen Kriegsführung im Osten, demzufolge die in den besetzten Gebieten produzierten Lebensmittel die Wehrmacht ernähren und ins Deutsche Reich gebracht werden sollten, sah den Tod von 30 Millionen Menschen auf dem Gebiet der Sowjetunion vor. Die örtliche Bevölkerung, sofern sie Krieg und Vernichtung überlebte, war zu großen Teilen auf eine wie auch immer mangelhafte Ernährung aus der Natur angewiesen. Für sie wurde der Wald zur letzten Rettung. Er lieferte ihnen Holz zum Heizen, für den Bau von Unterkünften, Essen und sogar Material für die Herstellung von Kleidung. Als die Soldaten der Roten Armee sie im Frühjahr 1944 befreiten, waren sie geschockt über den Zustand dieser Menschen. Noch lange versteckten sich Partisanen in den Wäldern im litauisch-weißrussischen Grenzgebiet. Die sog. Waldbrüder kämpften nun gegen die von ihnen als neue Besatzungsmacht empfundene Sowjetunion. Erst Anfang der 50er Jahre gaben sie ihren Widerstand auf, als ihnen nach dem Tod Stalins Amnestie versprochen wurde.

All das und noch viel mehr hörten wir an diesem Tag von den Waldmenschen. Wölfe kamen darin heute nicht vor, und blicken ließen sie sich auch nicht. Bisher waren ihre Spuren das einzige, was von ihrer Anwesenheit zeugte. Immer wieder versicherten die belarussischen Jäger meinen Schwiegervater, wie schwierig die Jagd auf den Wolf sei und dass sie alles täten, was in ihrer Macht stünde. Achim schien es gar nicht zu stören, dass es bisher nicht zum Schuss gekommen war. Allein das Ansitzen, die täglich wechselnden Waldstücke und die gute Gesellschaft waren genug Abenteuer. Er war bester Laune. Mit seinen paar Brocken russisch sowie Händen und Füßen erzählte er von seinem Wald in Alt-Brieselang. Von den Einritzungen der sowjetischen Soldaten und seinen Erlebnissen im Frühjahr 1945. Gelegentlich übersetzte ich einige Sätze, aber zwischen den Männern herrschte tiefes Einverständnis, das jedes Glas des Selbstgebrannten noch verstärkte. Die Waldmenschen dankten es ihm, wie er vom Abtransport der Bäume aus deutschen Wäldern in die Sowjetunion sprach. „Die Macht des Siegers ist das eine“, sagte er. „Die Not der Menschen hier in den Dörfern das andere. Das Holz haben sie gebraucht, zum Heizen, zum Wiederaufbau. Und wir waren es ihnen schuldig.“

9.000 Dörfer in Weißrussland waren zerstört nach dem Krieg. Zahlreiche Gedenksteine und Kreuze, teilweise mitten im Wald, erinnern an sie, von manchen Ortschaften weiß man nicht mal mehr den Namen. Wieder wurden massenhaft Bäume gefällt, und doch reichte das nicht aus. So unvorstellbar waren die Verwüstung und der Bedarf, dass auch deutsche Baumbestände aus den sogenannten Reparationshieben herbeigeschafft wurden. In den 50er Jahren begann vielerorts die Wiederaufforstung, bei der die Männer die Löcher mit den Spaten gestoßen und Frauen und Kinder die Setzlinge eingepflanzt haben. Zugleich rodete man aber auch erhaltene Bestände für die Landwirtschaft. „Immer wieder fanden Bauern Knochen und menschliche Überreste bei der Feldarbeit“, sagte Alexander. „Um sich und die Familie zu ernähren, konnten sie darauf aber keine Rücksicht nehmen“, fügte er hinzu. Das Bemühen, zu einem Alltag in Friedenszeiten zurückzufinden, das Vergessen und Verdrängen des Erlebten gingen dabei Hand in Hand.

Bis heute sind die Spuren des Krieges im Wald zu sehen. Die meist freiwilligen Suchkommandos stoßen auf Munitionsreste, Erkennungsmarken, Helme oder Spaten, teilweise bizarr eingewachsen in die Bäume. Es finden sich überwucherte Befestigungsanlagen und Bunkerreste, Schützengräben, die teilweise noch aus dem Ersten Weltkrieg stammen, durch Beschuss in Kampfhandlungen deformierte Bäume und menschliche Überreste. Und immer wieder Einritzungen in den Baumrinden. Wie in Brieselang. Wenn bald keine Menschen mehr von den Kriegen im letzten Jahrhundert erzählen können, dann sind sie die letzten Zeugen, die davon berichten.

Ich hatte den Geschichten über den Krieg in den vergangenen Tagen aufmerksam gelauscht. Nicht der leiseste Vorwurf oder gar Anschuldigung waren jemals in den Worten der Jäger spürbar gewesen. Immer wurde sauber unterschieden zwischen Deutschen und Faschisten. Mehr noch, es schien, als hätten wir, ihre Gäste, damit rein gar nichts zu tun, als ginge uns das gar nichts an. Sie machten es uns wirklich leicht, und trotzdem habe ich mich nicht ganz wohl gefühlt in meiner deutschen Haut. Als Tag fünf in der Dämmerung zu Ende ging und wir unsere Sachen zusammensuchten, lief mir ein wohliger Schauer über den Rücken. Ich fühlte mich wohl und geborgen in dieser Runde rauer Waldmenschen und Jäger, aber zugleich war ich erleichtert, dass der Wolf nicht aufgetaucht war.