Die schönste Sprache der Welt

Ähnlich verlief auch der folgende Tag. Wieder hatten wir uns an der Kreuzung getroffen und erstmal auf Waidmannsheil angestoßen. Igor und Marat waren schon unterwegs, um Spuren zu suchen und bevor die Männer wieder auf ihre Plätze gehen konnten, so dass warten mussten. Immer wieder kamen die beiden aus verschiedenen Richtungen zu der Kreuzung zurück, immer wieder ohne Ergebnis. Wortkarg, ohne erkennbare Regung aßen sie ein Stück Brot mit Speck und Zwiebeln, tranken ein kleines Glas Wodka und einen heißen Tee und verschwanden wieder im Wald. Aus Sorge, wir würden die Freude an unserem Abenteuer verlieren, wurde die Verpflegung von Tag zu Tag üppiger. Heute gab es außer Speck, Zwiebeln und sauren Gurken noch Wildwurst, geräucherte Schweineohren und eingelegten Kohl, Blinis und Waldkräutertee. Und natürlich Selbstgebrannten, einen glasklaren, aber höllisch hochprozentigen Wodka nach jahrhundertealten Rezepten der Hiesigen, wie sie sich selbst nennen, also derjenigen, die seit Generationen hier in der Gegend leben. Inzwischen war es schon ein Ritual, dass jemand aus der Runde uns Geschichten über die Jagd, das Land oder den Wolf erzählte. Heute waren es Gedichte. Die Augen unserer Begleiter strahlten. Ihre Begeisterung für die eigene Sprache, Kultur und Natur war ihnen anzusehen und zu hören. Dabei tat sich Ales hervor, der bisher sehr zurückhaltend gewesen war. Er rezitierte mit seiner warmen, tiefen Bassstimme:

Du armes Land, du unser Heimatland,/ Wald, Sumpf und Sand…/
Kaum irgendwo ein Stück brauchbarer Wiese,/
Kiefernwäldchen, Moos und Heidekraut. Und Nebel wie ein Schleier/
Bedeckt Wald und Hain./
0 du armes Land,/ 0 du gottverlassenes Land!

Diese Zeilen, so führte er aus, stammen von Jakub Kolas, einem der weißrussischen Nationaldichter. Er schrieb sein Gedicht Unser Heimatland 1906 zur Zeit der nationalen Wiedergeburt, als sich Schriftsteller und Intellektuelle in Wilna um die neu gegründete Zeitschrift Nascha Niwa sammelten. Zu diesem Kreis gehörte auch Janka Kupala, der 1922 auch ein Theaterstück über die Hiesigen verfasste. Über Belarus schrieb er 1908 das folgende Gedicht, die Maxim Gorki als die Hynme von Weißrussland bezeichnete.

Wer geht denn dort, wer geht denn dort/
In so riesengroßer Schar?/ – Die Weißrussen.
Und was tragen sie auf mageren Schultern,/
Auf blutigen Händen, auf Füßen in Bastschuhen?/ ־ Ihr Unrecht.
Und wohin bringen sie dieses ganze Unrecht,/
Und wohin tragen sie es zur Schau? – In die ganze Welt.
Und wer lehrte sie, diese vielen Millionen,/
Ihr Unrecht vorzubringen, weckte sie aus dem Schlaf?/ – Das Elend, der Kummer.
Und was, was wollen sie,/
Diese ewig Verachteten, diese Blinden, Tauben?/- (Sie wollen) Menschen genannt werden.

Ales war sichtlich in seinem Element. Groß und von sportlicher Statur stand er eindrucksvoll mit nach hinten geöffneten Schultern und leicht erhobenem Kopf mitten im verschneiten Wald und schien alles um sich herum zu vergessen. Er trug als einziger der Gruppe einen weißen Tarnanzug, einen dicken, gefütterten Overall mit unregelmäßigen dunklen Linien und Punkten, mit dem er mit der winterlichen Umgebung verschmolz. Da er keine Mütze trug, hoben sich seine dichten, dunklen Haare vor dem hellen Hintergrund ab. Es wirkte, als ob er auf einer Bühne stand, während er die Texte in reinstem Weißrussisch proklamierte. Ich konnte nicht mal die Hälfte verstehen, aber die Laute waren weich und fließend. Manche halten deshalb weißrussisch für schöner als italienisch oder französisch. Ales betonte mehrmals, dass er echtes, reines Weißrussisch spreche. „Das ist keineswegs selbstverständlich“, fügte er an.

Zwar sind weißrussisch und russisch nach der Verfassung gleichberechtigt und beides Staatssprachen, aber das bildet sich bisher weder in der Schulbildung noch in der Verbreitung des öffentlichen Lebens ab. Die meisten Schulen und Bildungseinrichtungen führen den Unterricht nach wie vor auf Russisch mit nur wenigen Stunden Weißrussisch durch. Aber alle verstehen mehr oder weniger weißrussisch und können es lesen, die wenigstens sprechen es jedoch in seiner reinen Form. Wer nicht russischsprachig ist, nutzt meist eine Mischung aus beiden Sprachen, auch Tresjanka (Mischfutter) genannt. Im Westen des Landes kommt ein polnischer Einschlag hinzu oder es wird überhaupt polnisch gesprochen. Auch wenn sich das allmählich ändert und die Förderung und der Gebrauch des Belarussischen von offizieller Seite zunimmt, so ist es doch bisher nur ein kleiner Teil Intellektueller in den Städten, die Wert auf den Gebrauch der weißrussischen Literatursprache legen und sie auch im Alltag nutzen. Wer es damit ganz genau nimmt, unterscheidet dann noch zwei Schreibweisen. Die Geister scheiden sich daran, ob die in den 30er Jahren abgeschaffte traditionelle Rechtschreibung, nach ihrem Begründer Taraschkewiza genannt, oder die an die Abkürzung für Volkskommissar (narodnyj kommissar) als Narkomauka bezeichnete sowjetische Version die richtige ist.

Auch unsere Jäger unterhielten sich mit uns in einem Gemisch aus allen Sprachen, was ich daran merkte, dass ich manches verstand, vieles nicht. Nicht nur Ales konnte viele Gedichte auswendig, ein Ergebnis zugleich des strengen sowjetischen Schulsystems, das sie alle noch genossen hatten und hoch lobten, und des patriotischen Nationalstolzes. Beides schließt sich hier ganz und gar nicht aus.

Wo liegt mein Land? Dort, wo der Urwald von Biazowieia sein ewiges Lied singt,/
Dort, wo sich der Niemen im Westen an feindliches Blut erinnert,/
Wo auf den Nowogrder Höhen grimmige Türme schlummern/
Und kirschfarbene Hütten im breiten Dnieper ihr Spiegelbild betrachten./
Du liegst dort, wo der blaue Pripet sich milde windet,/
Wo die Sophienkirche auf der Düna schwimmt wie ein Schiff…/
Dort, wo mein Herz beim ersten Schritt wie ein Hammer zu pochen beginnt,/

Diese Zeilen hörten wir von Stepan Stepanowitsch. Er trug es sehr viel nüchterner, aber nicht weniger sicher vor als Ales. Dieses Weißrussische Lied von Uladziinir Karatkevič rankt sich, wie das Werk fast aller weißrussischen Klassiker, um die Natur, den Wald und die Sümpfe. Die Autoren stammten selbst meist aus bäuerlichen Familien. Kolas, dessen Pseudonym Ähre bedeutet, war der Sohn eines Waldhüters. Zmitrok Bjadulja gehörte auch dazu, dessen Vater als Flößer vom Holzhandel lebte. Von ihm stammt der Roman In undurchdringlichen Wäldern (1939). Und natürlich Maksim Bahdanovich, einer der Mitbegründer der weißrussischen Literatursprache Anfang des 20. Jahrhunderts.

„Apropos Kolas“, mischte sich Ales wieder ein. „Er hat eine Erzählung über einen armen Bauernteufel geschrieben, der heimlich und bei Nacht eine Eiche im Wald fällt, um daraus Speichen für sein Fuhrwerk zu zimmern. Am Ende plagt ihn sein Gewissen so sehr, dass er nicht mehr schlafen kann und sich stellt.“ Eine ganz ähnliche Episode hatte Iwan Turgenev in seinen „Aufzeichnungen eines Jägers“ geschildert. In diesem Fall wird der Gutsherr ihn aus Mitleid auslösen und vor Strafe bewahren.

Das Haus des Waldhüters bestand aus einem einzigen verräucherten, niedrigen und leeren Zimmer, ohne Pritsche und ohne jeden Verschlag. An der Wand hing ein zerrissener Schafspelz. Auf der Bank lag ein einläufiges Gewehr, in der Ecke ein Haufen Lumpen; zwei große Töpfe standen neben dem Ofen. Auf dem Tisch brannte ein Kienspan; bald leuchtete er traurig auf, bald schien er zu verlöschen. Mitten in der Stube hing vom Ende einer langen Stange eine Wiege herab. Das Mädchen blies die Laterne aus, setzte sich auf eine winzige Bank und begann mit der Rechten die Wiege zu schaukeln und mit der Linken den Kienspan zu putzen. Ich sah mich um – mein Herz krampfte sich zusammen: So traurig ist es nachts in einer Bauernstube. Das Kind in der Wiege atmete schwer.

Auf seinen Streifzügen, die freilich der Jagd auf Waldschnepfen und Rebhühner gelten, taucht auch der Wolf auf.

»Was ist los? Was ist los?« fragten die Jungen.
»Nichts«, antwortete Pawluscha, mit der Hand nach dem Pferde winkend. »Die Hunde haben wohl etwas gewittert. Ich glaubte, es sei ein Wolf«, fügte er mit gleichgültiger Stimme hinzu, während seine Brust schnell atmete.
Ich sah Pawluscha mit unwillkürlicher Bewunderung an. Er war in diesem Augenblick herrlich. Sein unschönes, vom schnellen Ritt belebtes Gesicht glühte vor kühner Unternehmungslust und fester Entschlossenheit. Ohne auch nur einen Stecken in der Hand, war er allein in der Nacht auf einen Wolf losgeritten . . . Was für ein prachtvoller Junge! dachte ich mir, ihn betrachtend.
»Habt ihr denn die Wölfe gesehen?« fragte der Hasenfuß Kostja.
»Hier gibt es ihrer immer viele«, antwortete Pawel. »Aber sie sind nur im Winter unruhig.

Und wo wir schon mal bei den russischen Klassikern waren, was hätte besser in diese Stimmung gepasst als das berühmte Lied des russischen Sängers und Dichters Wladimir Wyssotzki über die „Wolfsjagd“? Das war die Sternstunde von Ales, der uns diese Ballade über die Anklage brutaler und rücksichtsloser Jäger und einen Ausbruch in die Freiheit vorsang.

[…] Die Treibjagd ist in vollem Gang, man jagt putzmunter
Die grauen Räuber, samt und sonders, jung und alt.
Die Treiber schreien, wie verrückt bellen die Hunde,
Blut auf dem Schnee und enger, abgelappter Wald.

Die Jäger spielen mit uns ohne Gnade –
Töten uns und versaufen das Fell.
Begrenzten uns die Freiheit mit den roten Lappen
Und zielen todsicher, schießen nicht fehl.

So ist der Wolf offensichtlich erzogen,
Dass er mit dieser Wolfssitte nicht bricht.
Als uns die Wölfin säugte, haben wir’ s eingesogen –
Durch die Lappen hinaus darf man nicht. […]

Ich hab den Gehorsam verweigert, –
Der Lebenswille ist stark! – ging dabei
Durch die Lappen, nur hörte erleichtert
Und froh der Menschen erstauntes Geschrei. […]

Die Treibjagd ist in vollem Gang, man jagt putzmunter
Die grauen Räuber, samt und sonders, jung und alt.
Die Treiber schreien, wie verrückt bellen die Hunde,
Blut auf dem Schnee und enger, abgelappter Wald.

Ales war dem berühmten Barden nicht nur äußerlich ähnlich, er hatte auch noch eine ebenso wunderbare und raue Stimme. Ich kannte das Lied. Als die letzte Strophe verklungen war, standen wir andächtig eine Weile schweigend da. Einigen der Männer standen Tränen in den Augen. Aus meiner Zeit im sowjetischen Wohnheim in Moskau Ende der 80er Jahre fielen mir jetzt noch einige Zeilen aus Wyssotzkis Feder ein, die ich zum Besten gab. Ich glaube, nur ein tödlicher Schuss auf einen Wolf hätte mir ebenso viel Respekt bei den Jägern eingebracht, und ich freute mich wie ein Schneekönig unter der Kapuze meiner Daunenjacke. Je dämmriger es wurde und je mehr Wodka floss, desto melancholischer wurden die Stimmung. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir es für heute aufgeben hatten mit der Wolfsjagd, jedenfalls hat keiner der Jäger die Lichtung an diesem Tag verlassen und Position mit dem Gewehr bezogen. Allerdings hatten auch Marat und Igor zu keinem Zeitpunkt gesagt, dass sie keine Spuren mehr finden würden. Sie waren aber zwischen ihren Ausflügen in den Wald immer länger in unserer Runde geblieben. Dann schwiegen sie, bewegten ihre Lippen mit der Deklamation der Gedichte und summten die Melodie Wyssotzkis mit. Als wir nach Einbruch der Dunkelheit nach Minsk zurückfuhren, war ich mir gar nicht mehr sicher, was mich in den letzten Tagen mehr beeindruckt und berührt hatte: Die Wisente oder die Waldmenschen.