Wisente
Unser erster Treffpunkt am dritten Tag sollte eine bestimmte Lichtung im Wald sein. In besonders kalten Wintern bringen die Waldhüter Futter für die im Naturschutzgebiet frei lebenden Wisente hierher. Ungestört von Menschen können die Tiere entscheiden, ob sie davon Gebrauch machen. Wir warteten schon fast eine Stunde auf den Rest der Jagdtruppe, als wir eine sachte Bewegung zwischen den Baumstämmen wahrnahmen. Es war eher eine Ahnung oder ein Gefühl. Der Wald lag still unter der dichten Schneedecke, kein Vogel, kein Geräusch waren zu hören. Und wieder, ein dunkler Schatten hob sich von der Schneedecke ab. Und da – noch einer. Instinktiv rückten wir näher in mitten der Lichtung zusammen und konnten nun sehen, dass ungefähr fünfzehn der in der Nähe herumstreunenden Tiere ganz langsam auf uns zukamen. Sie bewegten sich praktisch lautlos, nur das Knacken der Äste unter ihren Hufen im Schnee war zu hören. Immer wieder blieben sie stehen, als wären sie genauso erstaunt über die unerwartete Begegnung wie wir. Gerade in der langsamen Annäherung, bei der sich erst allmählich die imposante Größe dieser Urtiere offenbarte, war eindrucksvoll und unheimlich zugleich. Schließlich waren wir fast umringt von großen und kleinen Wisenten, die uns ebenso neugierig musterten, wie wir sie. Tatsächlich schien es, als hätten wir direkten Blickkontakt. Die großen braunen Augen, die in mitten des mit buschigem Pelz umgebenen Gesichts und unterhalb von zwei gebogenen Hörnern sichtbar glänzten, blickten milde und aufmerksam auf uns, aber zweifellos auch wachsam und vorsichtig. Instinktiv senkte ich meinen Blick zum Zeichen einer alternativlosen Demut und Unterordnung. Ich konnte ihr leises Schnaufen hören, das Reiben einzelner Tiere an der rauen Baumrinde oder die Berührung der unruhigen Schwanzspitze auf dem massigen Körper. Durch den über den Vorderbeinen erhöhten und leicht nach vorne geneigten Schulterbereich wirkte ihre Haltung, als seien sie auf dem Sprung. An dem langen Behang der für ihr Gewicht erstaunlich schmalen Fesselbeugen und unter dem Bauch hingen kleine Eiszapfen, an den Mundwinkeln der mahlenden Kiefer glitzerten Speicheltropfen. Kleine Atemwolken standen vor den weit geöffneten Nasenlöchern. So standen wir eine ganze Weile, innerlich angespannt und konzentriert, unsicher, was das richtige Verhalten war. Insgeheim haben wir wohl alle gehofft, dass die Waldmenschen eintreffen und das Richtige tun würden, was auch immer das war. Tatsächlich wurde die Stille kurze Zeit später durch das Klingeln eines Handys unterbrochen. Das Geräusch wirkte fremd und unnatürlich, es brachte uns wohl oder übel in die Realität zurück. Die Jäger wollten sich für ihre Verspätung entschuldigen und waren wenige Minuten danach vor Ort. Sie waren sie mit dem Geländewagen über einen holprigen Waldweg nah an die Lichtung herangefahren und stapften durch den festen Schnee auf uns zu. Ihr fröhliches Lachen wirkte zutiefst entspannend, selbst die Wisente lösten sich aus ihrer Erstarrung und setzten sich wieder in Bewegung. Fast hatte es den Eindruck, als würden sie die Jäger erkennen und wären nun endlich sicher, dass auch wir keine unbefugten Eindringlinge waren. Beruhigt setzten sie ihren Weg durch den Wald fort und entfernten sich ebenso langsam wie sie gekommen waren.
Zurück blieb das Gefühl, Zeuge eines ungewöhnlichen Schauspiels gewesen zu sein und zugleich eine Sehnsucht nach mehr davon. Gerne hätte ich meine Hand in ihrem dichten Fell verschwinden lassen, ihren Geruch aufgenommen und die Wärme ihres Körpers gespürt. Unsere belarussischen Begleiter freuten sich für uns, dass wir die Tiere gesehen hatten. „Eine solche Begegnung mit einer Herde Wisente ist gar nicht so selten, wie Sie vielleicht denken,“ erklärte Stepan Stepanowitsch. „Aber auch für uns ist das immer wieder ein Moment des Innehaltens und Respekts vor der Natur,“ fügte er hinzu. Mit über 1.800 Wisenten, erfuhren wir weiter, leben in der Republik Belarus fast so viele Tiere wie im benachbarten Polen, das statistisch die erste Stelle einnimmt. 96 % der weißrussischen Wisente leben in Freiheit und streunen durch die Wälder und über die Felder. Sie sind daher über die Jahrzehnte auch an Begegnungen mit Menschen gewöhnt und in der Regel, wenn sie nicht verletzt sind oder provoziert werden, friedlich. „Eigentlich ist es ganz einfach“, stellten die Jäger fest. „Wenn man einem Wisent begegnet, sollte man sich verhalten, wie man sich auch einem Menschen gegenüber verhalten sollte: mit Respekt.“
Im Laufe des Tages lernten wir beim Warten auf den Wolf noch vieles mehr. So zum Beispiel den Unterschied zwischen Wisenten und Bisons. Wisente, oder auch europäische Bisons, gehören wie ihre in Nordamerika lebenden, noch kräftigeren Verwandten, die Bisons, zu der Familie der Wildrinder. In Mitteleuropa verschwanden sie 1919, als das letzte Tier geschossen wurde. In Zeiten von Krieg und Revolution waren sie eine begehrte Beute für die hungernden Menschen. Die massigen Tiere sind immer gejagt worden, erst von polnischen Königen, dann von russischen Zaren. Unter den deutschen Besatzern tat sich Hermann Göring als „Reichsforstmeister“ bei der Jagd hervor, und auch die sowjetische Nomenklatura ließ sich das Jagdvergnügen nicht verbieten.
In den 20er Jahren legten mehrere Staaten ein Programm zum Wiederaufbau der Population auf. Dazu sammelte man die letzten zwölf Tiere aus europäischen Zoos und brachte sie in die Beloweschskaja Puschtscha, Dies ist das bekannteste Waldgebiet unter den Naturschutzzonen und gilt als der letzte Urwald Europas mit riesigen, alten Bäumen und einer großen Artenvielfalt. Dort vermehrten sich die Wisente wieder. Als jedoch die europäischen Grenzen in Folge des Zweiten Weltkrieges neu gezogen wurden, wurde auch der Urwald geteilt, und erstreckt sich heute über die Grenzen von Polen und Belarus. Seitdem gehört der weitaus größte Teil dem Nachbarland und heißt Białowieża. Dort befanden sich zunächst alle Wisente, einige wenige brachte man dann über die neue Grenze. Darüber hinaus siedelten die Waldhüter weitere Herden in der Gegend der Beresina um Borisow und in der Pripjat-Region im Süden an. Dabei hatten sie allerdings weniger Erfolg als im Westen. Wisente lieben den feuchten Boden der Sümpfe nicht. So entwickelten sie sich in der Beloweschskaja Puschtscha am besten und verteilten sich von dort über das gesamte Land. Ursprünglich waren sie gar keine Waldbewohner, sondern zogen die freie Fläche und die Steppe vor. Durch die veränderten Bedingungen und das Zusammenleben mit dem Menschen zogen sie sich aber immer mehr in die Wälder zurück und sind heute überwiegend dort anzutreffen.
„Vom Wolf haben Wisente von Natur aus nichts zu befürchten. Als dieser das Gebiet besiedelte, gab es keine Wisente, so dass er schlicht nicht weiß, was er mit den Riesen anfangen soll.“ Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich dieser Erklärung von Stepan Stepanowitsch glauben sollte, hütete mich aber nachzufragen. „Ihr Abschuss“, so fuhr er fort, „steht unter Strafe, nur kranke und verletzte Tiere dürfen gegen eine teure, von Jägern begehrte Lizenz kontrolliert erlegt werden.“ Fälle von Wilderei gibt es aber wohl leider auch immer wieder. Gerade kürzlich, so wollte er uns warnend mit auf den Weg geben, war eine Gruppe Wisente ganz in der Nähe von verantwortungslosen Jägern getötet und übel zugerichtet zurückgelassen worden.
„Wisente leben übrigens im Matriarchat,“ unterbrach Marat unser betretenes Schweigen. Ich hatte den Eindruck, der Themenwechsel sollte uns die Last der Moralpredigt von den Schultern nehmen. „Die Herde wird von der ältesten und erfahrensten Kuh geführt. Die Bullen bilden ihre eigene, viel kleinere Herde. Einmal im Jahr kommen beide Gruppen zur Fortpflanzung zusammen, nur um sich danach wieder zu trennen. Interessant ist ihr Verhalten zum Schutz der kleinen und schwachen Tiere. Wenn Gefahr droht, stellen sich die Großen in einem engen Kreis um die Schutzbedürftigen, so dass der Feind diese in der Herde nicht ausmachen kann.“ Dass ausgerechnet einer der Waldmenschen, die auch heute wieder kaum einen Laut von sich gegeben hatten, mir die Rollenverteilung und Familienstruktur der Tiere erklärten, verstand ich als Friedenserklärung. Marat ging wohl davon aus, dass mich das als Frau besonders interessierte. Ich war mir aber sicher, dass er sich nach zwei Tagen mit mir im Schlepptau von meiner grundsätzlichen Eignung überzeugt hatte, an der Jagd, oder doch zumindest dem Drumherum, teilzunehmen. Das war mein Ritterschlag, und ich dankte es ihm, indem ich, ohne auch nur die Miene zu verziehen, das mir angebotene, ziemlich große Glas Wodka in einem Zug leerte. Marat, und wie ich aus dem Augenwinkel sehen konnte, auch Igor, nickten zufrieden. Kein weiteres Wort wurde mehr an diesem Tag zwischen uns gesprochen.
Für uns ging es weiter und tiefer in die Puschtscha hinein. Aus dem Auto konnten wir zwei weitere Wisentherden zwischen den Bäumen ausmachen, auch Rehe und einige Wildschweine haben sich gezeigt, nur die Elche haben sich vor uns verborgen. Kurz vor dem Ziel überquerten wir eine „Hauptkreuzung“, wie sie unsere Begleiter nannten. Sie entpuppte sich als eine kleine, tief verschneite Lichtung mitten im Nirgendwo. Dort kamen wir zurück zu den Anfängen, das Warten auf den Wolf. Über sein Ausbleiben wurde nachdenklich spekuliert. War es ihm zu kalt war und er schlief, um Kräfte zu sparen? War es noch nicht lange genug kalt, um auf Futtersuche gehen zu müssen? Waren die besonderen Umstände der Ranzzeit verantwortlich? Gab es zu viele Rehe in der Gegend, so dass er satt war und nicht umherzog? Oder gab es gar zu wenig Rehe, was ihn zwang, immer neue Wälder aufzusuchen? Die Zeit verging langsam, noch immer unter dem Eindruck der Wisente am Morgen. Die Jäger saßen stundenlang auf ihren kleinen Hockern oder Kisten bewegungslos mit dem Gewehr im Anschlag.