Werwölfe und andere Sagen

Am nächsten Morgen hieß es wieder: warten auf den Wolf. Offenbar beunruhigte das die Gastgeber deutlich mehr als meinen Schwiegervater. Er war es, der an die unvergleichliche Scheu dieses Waldbewohners erinnerte, der nur wenigen Jägern das Glück beschert, ihn zu sehen, ganz zu schweigen davon, ihn zu erlegen. Das war das Stichwort für unsere Begleiter. „Gerade weil die wenigsten Menschen je einen Wolf in der freien Natur zu Gesicht bekommen, ranken sich zahlreiche Mythen um ihn“, ergriff Alexander das Wort. „Bei uns sind die Kraft und Stärke des grauen Jägers in den Märchen und Bylinen, den epischen, mittelalterlichen Heldenliedern der Slawen überwiegend positiv besetzt“, fuhr er fort. „Der Wolf tritt hier als Helfer und Beschützer auf. Gefährlich oder gar todbringend wird er, weil er von bösen Mächten benutzt wird, die über ihn verfügen. Die Faszination und Achtung des Wolfs haben sich über die Jahrhunderte erhalten und wirken bis heute nach.“

Alexander, der bisher sehr zurückhaltend gewesen war und eher wie en Beamter als wie ein Waldmensch wirkte, lebte auf und begann zu erzählen. Wir hielten unsere Becher mit dampfendem Tee mit beiden Händen umklammerte und rückten näher zusammen. So erfuhren wir, dass die Jäger und Krieger der Vor- und Frühgeschichte in ihm einen Helfer bei der Jagd auf Nahrung und dem Schutz vor Feinden sahen. Das spielgelte sich in Jagdritualen wie Tänzen in Tierhäuten oder im Tragen von Wolfsmasken wider, mit denen Truppen in den Kampf zogen. Der Aberglaube verlangte, die Tiere nicht durch unnötige Geräusche, Schmutz oder Aufdringlichkeit zu verärgern. Da man glaubte, der Wolf verstehe die menschliche Sprache, war Schweigen geboten, ein Jäger durfte auch im Haus nicht über die Jagd sprechen oder das Tier beim Namen nennen. Die Weißrussen nannten ihn daher „Onkel“ oder auch „den Grimmigen“. Als Ackerbau und Viehzucht zunehmend das menschliche Leben bestimmten, bedeutete der Wolf in erster Linie Gefahr für die Tiere in Haus und Hof. Aber auch jetzt glaubte man an seine guten Eigenschaften. Die Raubtiere hielten andere wilde Tiere wie Hirsche oder Wildschweine von den Feldern und Schafsherden fern und wurden so zum Symbol von Wachstum und Ertrag. Die Bauern brachten ihnen Opfer dar, um sie milde zu stimmen und das eigene Zuchtvieh zu verschonen. Verbreitet war auch die Vorstellung von dunklen Wolken in Form von Wölfen, die den benötigten Regen für die Saat brachten. „Bog sich das Getreide im Wind, so hieß es, der Wolf sei im Korn, was eine gute Ernte versprach“. Abrupt beendete Alexander seine Ausführungen, als er bemerkte, dass wir ihn ansahen und ihm aufmerksam zuhörten. Wir hielten den Atem an, weil wir befürchteten, er würde sich wieder zurückziehen, doch dann lächelte er, schenkte sich Tee aus der Thermoskanne nach und setzte seine Erzählung fort.

„Wölfe galten als heilige Tiere des Fruchtbarkeitsgottes Veles.“ Er schaute uns erwartungsvoll an, als wolle er prüfen, ob wir ihm folgen konnten. Allmählich schien er Gefallen an unserer Aufmerksamkeit zu finden. „Die nach ihm benannten Winterfeiertage Anfang Januar wurde auch die Wolfstage genannt.“ Und weiter: „Die damit verbundenen Rituale vermischten sich mit dem Fest zur Sonnenwende am 25. Dezember, den Kalyada-Tagen, an denen die Menschen sich unter anderem eine Wolfshaut überwarfen und mit einem ausgestopften Wolf durch das Dorf tanzten. Kalyada wurde, wie andere slawische Feiertage auch, seit dem frühen Mittelalter von der Kirche vereinnahmt und mit dem christlichen Weihnachten verknüpft. Unter christlicher Vorherrschaft wurde der Wolf zunehmend zur Inkarnation des Bösen, doch im Volksglauben hielt sich hartnäckig die Vorstellung von seinem guten Charakter. So glaubten die Bauern, der Überfall des Wolfes auf das Vieh sei ein gutes Zeichen. Als Dank und zur Verschonung der übrigen Herde opferten sie dem Heiligen Georg, Herr der Wölfe und Beschützer der Herden, ein weiteres Tier.“

„Erzähl mal von den Werwölfen“, mischte sich Ales ein, der während der Ausführungen von Alexander immer wieder zufrieden genickt hatte, so als wolle er bestätigen, dass dieser uns keinen Unsinn erzählte. „Eins nach dem anderen“, entgegnete Alexander und setzte von Neuem an. „In den weißrussischen Gebieten war auch der Glaube an Werwölfe, also Menschen, die sich zeitweise in Wölfe verwandeln, weit verbreitet. Während solche Wolfsmenschen in den meisten Sagen und Legenden im Verdacht stehen, mit dem Teufel im Bunde zu stehen, galten sie hier als eine normale Erscheinung. Der griechische Historiker Herodot berichtete schon im 5. Jahrhundert v. Chr. von dem Glauben der Skythen, ihre im Norden lebenden slawischen Nachbarn – also wir“, schmunzelte Alexander, „oder auch den Neuri, wie Herodot sie nannte, verwandelten sich einmal im Jahr in Werwölfe.“

Auch von Polozk, der ältesten Stadt Weißrusslands, wusste Alexander Werwolf-Geschichten zu berichten. Dort rankt sich eine Werwolf-Legende um den Fürsten Wseslaw Bryachislav. Demnach verwandelte dieser sich nachts in das Untier mit Zauberkräften. Das Fürstentum Polozk ist heute einer der Referenzpunkte für eine eigene, weißrussische Staatlichkeit. Unter der Herrschaft von Wseslaw hatte es im 11. Jahrhundert den Höhepunkt seiner Macht erreicht und seine Unabhängigkeit immer wieder verteidigt. Das Konterfei des sagenumwobenen Herrschers prangt seit 2005 auf einer 20 Rubel Silbermünze. Neben Kiew und Nowgorod war Polozk eines der politischen und kulturellen Zentren Osteuropas. Hier lebte und wirkte im 12. Jahrhundert auch Euphrosyne von Polozk, die Nationalheilige Weißrusslands, die unterschiedlichen Quellen zufolge mit Wseslaw verwandt war.

„Über den Wolf in Weißrussland kann man tagelang Geschichten erzählen“, unterbrach sich Alexander und fragt, ob wir genug hätten. Wir schauten uns um, ob Igor und Marat uns vielleicht gute Nachrichten von Wolfsspuren bringen würden. Da sie nirgend zu sehen waren, füllten wir unsere Becher erneut mit Tee oder auch etwas Stärkerem und blickten Alexander erwartungsvoll an. Dieser schien aus einer unendlichen Quelle von Wolfsgeschichten zu schöpfen und griff den Faden wieder auf. Seit 1307 gehörte Polozk zum Großfürstentum Litauen, dem osteuropäischen Großreich zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, der das gesamte weißrussische Gebiet umfasste. Von seinen Bewohnern, den Litwiny, wird berichtet, dass sie im Kampf Wolfsmasken trugen oder sich Wolfshäute überwarfen, um von der Kraft des Raubtiers zu profitieren. Vom 14. bis 16. Jahrhundert war Vilnius die Hauptstadt des Großfürstentums, im Weißrussischen Wilna genannt. Die Stadt war im 19. Jahrhundert das Zentrum der weißrussischen Nationalbewegung, neben Juden waren Weißrussen die größte Bevölkerungsgruppe. Die Stadt ist daher für nationalbewusste Belarussen bis heute eigentlich eine weißrussische Stadt. Ihre Gründung, so will es eine weitere Legende, ist ebenfalls mit einem Wolf verbunden. Ihr zufolge erschien dem Großfürsten Gediminas bei einer Ruhepause auf der Jagd im Traum ein heulender Wolf. Als Gediminas mit seinem Bogen auf ihn schoss, prallte der Pfeil am eisernen Körper des Tieres ab. Die Deutung des Traums beschied dem Fürsten die Aufforderung, an der Stelle des Schusses auf den Wolf eine Burg und eine Stadt zu erbauen, die hart wie Eisen sein sollte, um ihren Ruhm zu verbreiten.

Über die Erzählungen war es mittlerweile dämmerig geworden. Wir begannen zu frösteln. Während wir die Lebensmitteln wieder in dem Landrover verstauten und die Bechermit Schnee auswuschen, erinnerte uns Alexander an das Märchen von dem guten Zarewitsch Iwan und dem grauen Wolf, das im ostslawischen Raum jedes Kind kennt. Dem Helden des russischen Märchens ist der Wolf ein guter Freund und Helfer in ausweglosen Situationen. Der Maler Wiktor Wasnezow hat das Sujet 1889 in einem ebenso bekannten Gemälde „Iwan und die Prinzessin reiten auf dem grauen Wolf“ festgehalten, das heute in der Moskauer Tretjakow-Galerie zu sehen ist. Später auf der Rückfahrt berichtete er noch von einer der wenigen Ausnahmen in dem überwiegenden Wohlwollen gegenüber dem Wolf. Die Minsker Künstlerin Nadeschda Liwenzewa kehrte in ihren Bildern immer wieder zu diesem Motiv zurück, zeigt das Tier als Bestie im Kampf mit den Artgenossen, als hinterlistigen Räuber, dessen edles, weißes Fell nicht über die böse funkelnden Augen hinwegtäuschen kann oder gar als Bedrohung für den Menschen im städtischen Raum, wie er nachts über die Dächer der Wohntürme schleicht. In ihren Bildern kommt die ganze Ambivalenz, die Faszination, die Ehrfurcht und der Respekt, aber auch die Angst und der Hass gegenüber dem Wolf zum Ausdruck. Doch bevor wir uns auf den Rückweg in die Stadt machten, verabredeten wir uns für den nächsten Morgen. Am Ende dieses zweiten Tages waren wir erschöpft, aber glücklich. Aber wir freuten uns auch auf eine warme Wohnung und ein Bad. Ob ich noch mehr über den Wolf und die Geschichte Weißrusslands nachlesen würde, schien mir äußert zweifelhaft, als mir, angelehnt an die kalte Scheibe des Autos, die Augen zufielen, während Alexander noch immer erzählte.