Waldmenschen

Am ersten Tag zeigte er sich nicht. Und wir gewöhnten uns ans Warten. Vor Sonnenaufgang fuhren wir bei 15 Grad Frost mit einem klapprigen Landrover in den Nationalpark bei Iwenez. Er liegt 70 km nordöstlich von Minsk, mitten in der Puschtscha – so lautet das weißrussische Wort für dichten Wald, in diesem Fall die Wolyschinskaja oder Perschajskaja Puschtscha. Dort waren an den Tagen zuvor drei Wölfe gesichtet und seit Februar des letzten Jahres 13 von ihnen geschossen wurden. Die Fahrt verlief still, weil es früh, kalt und dunkel war und alle ihren Gedanken nachhingen. Käme es heute tatsächlich zu einer Begegnung mit einem Wolf in freier Wildbahn? Und würde dann tatsächlich jemand auf ihn schießen? Ich konnte mir das alles nicht recht vorstellen und hatte ein flaues Gefühl im Magen. Still war es aber auch, weil die Schneedecke die Geräusche der erwachenden Stadt verschluckte. Am Stadtrand durchquerten wir einen der letzten sogenannten privaten Sektoren, eine Ansammlung alter Holzhäuser mit ungepflasterten Wegen und Gemüsegärten inmitten der eng angrenzenden Hochhäuser. Die Wohntürme verdrängen die kleinen Höfe nach und nach und nehmen ihnen das Licht und buchstäblich die Luft zum Atmen. Das Bild kleiner Vorstadtgärten war eine Einstimmung auf die weitere Fahrt und den Wald. Nach der Überquerung des Autobahnrings waren immer weniger Autos auf den Straßen, rechts und links der Trasse begann überganslos tief verschneiter Wald. Birken, Tannen und Kiefern waren in üppiges Weiß gehüllt, das vor der dahinterliegenden Dunkelheit des Waldes umso leuchtender wirkte. Straßenlaternen gab es keine. So tauchte im Scheinwerferlicht des Autos immer nur ein kleiner Ausschnitt auf, bevor er sofort wieder verschwand. In dem ungeheizten Wagen hatten sich Eisblumen an den Scheiben gebildet, unser Atem gerann zu Nebelschwaden. Sie hüllten die Außenwelt in einen dunstigen Schleier. Der wolkenlose Himmel färbte sich über dem Waldrand allmählich in rosa und orangefarbenen Tönen und kündigte die aufgehende Sonne an.

In der Dämmerung führte der Weg durch Rakow, zuerst an einer kleinen, weiß getünchten orthodoxen Kirche mit einem Zwiebelturm vorbei. Bei ihrem Anblick bekreuzigten sich die wenigen Menschen auf der Straße. Kurz darauf konnte ich eine katholische Kirche mit zwei spitzen Türmen und gotisch anmutender Architektur sehen. Dieses Nebeneinander verschiedener Gotteshäuser ist typisch für die Region westlich der Hauptstadt. Was allerdings nicht zu sehen ist, sind Synagogen, sofern es überhaupt wieder welche gibt. Weit mehr als die Hälfte der Einwohner dieser Gegend waren vor dem Ersten Weltkrieg Juden. Die mehrheitlich von ihnen bewohnten Orte und Stadtteile, die sogenannten Shtetl, erstreckten sich über Galizien und weite Teile des heutigen Ostpolens, der Ukraine, Weißrusslands und Litauens. Der Westen des heutigen Weißrusslands gehörte seit Ende des 18. Jahrhunderts zum russischen Imperium, das der ethnischen, religiösen und kulturellen Vielfalt mit einer harten Russifizierungspolitik begegnete. Der Erfolg war begrenzt, die Glaubensbekenntnisse der Menschen stark. In Rakow gab es neben der russisch-orthodoxen Kirche seit dem 17. Jahrhundert ein Dominikanerkloster und mehrere Synagogen. Die katholische Kirche der Gottesmutter des Heiligen Rosengartens, an der wir vorbeifuhren, wurde zwischen 1904 und 1906 erbaut. Auch die deutsche Besatzung im Ersten Weltkrieg im äußersten Westen und der polnisch-sowjetische Krieg 1919 bis 1921 veränderten den Charakter der Region, in der Weißruthenen, Russen, Litauer, Ukrainer und Juden lebten, noch nicht nachhaltig. Mit dem Vertrag von Riga 1921 kamen die im Polnischen Kresy genannten Gebiete, was so viel bedeutet wie Grenzland, an das wiedergegründete Polen. Nun war es die Polonisierung, mit der die Zweite Republik Polens die neuen Landesteile konsolidieren wollte. War vorher die katholische und polnischsprachige Bevölkerung eine Minderheit, waren es jetzt die russisch und belarussisch sprechenden Weißrussen. Im September 1939 besetzte die Rote Armee die Kresy, eine Folge des Hitler-Stalin-Paktes zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion. Diese als Wiedervereinigung mit der Belarussischen Sowjetischen Sozialistischen Sowjetrepublik bezeichnete Besetzung Ostpolens ist bis heute ein Politikum. In seltener Einigkeit sind die offizielle Geschichtspolitik der Regierung und Vertreter der sonst oppositionellen belarussischen Nationalbewegung überzeugt, dass es sich bei „Westbelarus“ schon immer um Kerngebiete des eigenen Staates gehandelt hat, die nun also von Stalin wieder „befreit“ wurden. Diese Haltung führt naturgemäß zum Streit mit Polen, das die national gesinnten Intellektuellen in ihrer oppositionellen Haltung gegenüber dem Regime massiv unterstützt. Bei Westbelraus allerdings hört die Freundschaft auf.

Da ich mit meinen Überlegungen, wie wohl die Wolfsjagd verlaufen würde, nicht weiterkam, gingen mir diese historischen Fakten durch den Kopf, während wir noch immer still unterwegs waren. Die Geschichte der Region war damit noch nicht zu Ende. Am 22. Juni 1941 überfiel das nationalsozialistische Deutschland unter Verletzung des Vertrages von 1939 die Sowjetunion. Tatsächlich gab es unter der Bevölkerung nicht wenige, die den Einmarsch der Wehrmacht begrüßten, erhofften sie sich doch von den Deutschen die Befreiung von der brutalen Politik der Kollektivierung und den Repressionen des kommunistischen Regimes. In diesen Hoffnungen wurden sie bitter enttäuscht, die Nationalsozialisten errichteten ein brutales Besatzungsregime. Die jüdische Bevölkerung wurde in Ghettos gesperrt und bis zum Ende des Krieges vollständig ausgerottet, die übrigen Einwohner zur Zwangsarbeit verpflichtet, nach Deutschland deportiert und ebenfalls zu großen Teilen ermordet. Von diesem Trauma erholte sich Westbelarus wie auch der Rest des Landes unter der nach Kriegsende 1944 wiedererrichteten kommunistischen Diktatur nur sehr langsam. Das jüdische Leben der Shtetl war für immer zerstört. Heute leben nur sehr wenige Juden wieder in der Region, Synagogen gibt es kaum, in Rakow bis zum heutigen Tage keine einzige.

Es war noch immer nicht ganz hell, als wir den Treffpunkt im Wald erreichten. Dort erwarteten uns etwa zehn bis zwölf Männer. Außer Stepan Stepanowitsch waren dies der Leiter des Nationalparks, Alexander, der Chef der staatlichen Jagdagentur, Ales, – immerhin hatte er in diesem Winter schon drei Wölfe geschossen -, weitere Jäger und vor allem die Spurensucher. Sie sind die wahren Helden der Wolfsjagd, nur sie können die Tiere aufspüren. Alle anderen sind ihre Hilfstruppen. Per Funk verständigen sie sich über mehrere Kilometer über das Fährtenbild, um das Gelände schnell und leise einzulappen. Gelingt das, so besteht die Chance, die Tiere zwei oder drei Tage in dem gekennzeichneten Gebiet zu halten.

Unsere Spurenleser waren die Waldmenschen und Brüder Marat und Igor. Aufgewachsen in der Puschtscha, bewohnen sie bis heute eines der insgesamt sieben Häuser im Naturschutzgebiet. Sie waren klein und drahtig mit fein geschnittenen Gesichtern, ihre hellwachen Augen sondierten unruhig ihre Umgebung, mit der sie zu verschmelzen schienen. Anders als die anderen, kräftigen und untersetzten Kerle mit rauen, manchmal groben Zügen und lauten Stimmen, wirkten sie schmal und verletzlich in ihren dicken, etwas zu großen Daunenjacken, die auch schon bessere Tage gesehen hatten. Überhaupt waren sie dünnbekleidet angesichts der Kälte, ihre Füße steckten in Filzstiefeln, über den Ohren hingen die Klappen alter grüner Armeemützen, Handschuhe trugen sie keine. Sie bewegten sich leise und waren äußerst wortkarg. Kaum eine Begrüßung kam ihnen über die Lippen. Wohlmöglich hatte der Neuschnee ihre Laune getrübt, hatte er doch die Spuren, die sie gestern noch gefunden hatten, wieder verdeckt. Allmählich stellte sich jedoch heraus, dass es etwas anderes war, was sie und auch die anderen Männer umtrieb. Wieso war eine Frau dabei? Sie alle fühlten sich von mir gestört und ließen mich unmissverständlich wissen, dass die Jagd nichts für Frauen ist, angefangen von den kalten Temperaturen und den Unbequemlichkeiten über die Gefahren, falls der Wolf erscheint und die Unzumutbarkeit des zu erwartenden Todesschusses bis hin zu der Unfähigkeit, das alles mit viel Wodka zu begießen. Immerhin bei letzterem konnte ich ihnen im Laufe der nächsten Tage einigen Respekt abringen, aber es dauerte eine ganze Weile bis die Anspannung sich löste.

Während Igor und Marat im Wald unterwegs waren, verkürzten wir uns die Wartezeit mit dem mitgebrachten Proviant, den die Männer auf der Ladefläche des alten Landrovers ausbreiteten: Saure Gurken Zwiebeln, grobes Graubrot, heißer Tee und natürlich Wodka. Dieser half, das Gespräch allmählich in Gang zu bringen. So belehrten Alexander und Stepan Stepanowitsch mich, dass die Jagd ein beliebter und weit verbreiteter Sport in Belarus sie, Frauen darin aber praktisch nicht vorkämen. Immerhin erzählten sie uns dann auch, was die Jagd in Belarus so besonders macht. Jäger gibt es demnach viele, die Anforderungen zur Prüfung sind im Vergleich zu Deutschland gering. Das eigentliche Jägerhandwerk ist jedoch mühsam, der Umgang mit Waffen erfordert eine ungeheure Bürokratie und zudem ist es schwierig und teuer, an gute Waffen zu kommen. Dafür sind Artenvielfalt und Bestand der Tiere groß, weit verbreitet sind Füchse, Dachse, Marder, Fischotter und Waschbären. Auch Wildschweine gibt es viele. Da die männlichen Tiere bis zu 200 kg schwer werden, sind sie als Jagdtrophäen auch für Touristen sehr beliebt. In Weißrussland sind außerdem Elche, Wisente, Wölfe und Bären, der Auerhahn, Birkwild und Rotwild zu Hause. Der Bestand an Hirschen war infolge der Revolution und der Kriege des 20. Jahrhunderts stark zurückgegangen, wird aber heute wieder mit Erfolg gehegt. Seit einigen Jahren vermehren sich die Biber stark, und auch der Luchs ist wieder anzutreffen.

Und dann ist da noch der Wolf. Nun war es Ales, der sprach. Sachlich erklärte er uns, dass man in Weißrussland eine andere Einstellung zu diesen Raubtieren habe als in Deutschland. „Noch – muss man wohl sagen, allmählich melden sich auch hier immer mehr Naturschützer zu Wort und sprechen sogar vom ‚großen Terror‘ gegen die Wölfe.“ Diese Parallele zu den Repressionen und der Vernichtung mehrerer Millionen Menschen durch den Diktator Stalin zwischen 1936 und 1938 scheint allerdings, so fuhr er fort, nicht nur den Verteidigern der Bejagung des Wolfs unangemessen. Er machte keinen Hehl aus seiner eigenen Haltung und verwies auf die Gefahr für die Bewohner kleiner Dörfer und abgelegener Hofstellen, aber auch auf das Gleichgewicht der Natur, gemessen an der Fläche des Landes und der verfügbaren Nahrung. Das sind für Wölfe Hirsche, Rehe, Elche, Wildschweine, verschiedene Nagetiere, Vögel und Früchte. Und wo viele Wölfe sind, werden auch viele dieser Tiere gerissen, zu viele, wie die Anhänger der Jagd sagen. Der wachsende Bestand des Wolfes gilt deshalb als schädlich für andere Arten. Je nach Quellenangabe leben derzeit zwischen 1.500 bis 1.800 Wölfe in Belarus, besonders viele im Südosten des Landes, der Sperrzone um Tschernobyl (in Deutschland leben bis zu 650 Tiere, Tendenz steigend). Dort war die Population nach dem Reaktorunglück in der benachbarten Ukraine 1986 stark zurückgegangen, hat sich seitdem aber gut erholt. Auch trauen sich viele Jäger nicht in das noch immer kontaminierte Gebiet. Anders als in Deutschland dürfen die Tiere in Belarus ganzjährig gejagt werden, verantwortungsvolle Jäger tun dies aber nur im Herbst und im Winter. Unter verschiedenen Methoden ist das Lappen im Winter weit verbreitet und beliebt. Dabei gibt es einen Wehrmutstropfen für alle Jäger aus der EU: Sie dürfen das dicke, weiche Fell der Beute, der Balg, nicht mit nach Hause nehmen, weil Belarus das Washingtoner Artenschutzabkommen, das den Handel mit geschützten Tier- und Pflanzenarten regelt und damit auch die Regulierung der Wölfe vorschreibt, nicht unterschrieben hat. Was Ales davon hielt, sagte er nicht.

Aber offenbar stört das die Jäger nicht. Mittlerweile gibt es vielfältige Angebote von deutschen und belarussischen Reiseagenturen. Beliebt dabei ist die Unterbringung in zünftigen Jagdhütten. Aber auch unsere Entscheidung, für die kurzen Nächte in unsere komfortable Wohnung in Minsk zurückzukehren, hat das Abenteuer nicht beeinträchtigt. Der erste Tag im Wald endete mit der Rückkehr von Igor und Marat und dem knappen Hinweis, sie hätten Spuren gefunden. Kein Kommentar, keine Emotion. Für uns klang allein die bloße Feststellung geheimnisvoll und vielversprechend.