Wolfsjagd

Im zweiten Winter unserer Abwesenheit von Haus und Hof in Alt-Brieselang im Brandenburgischen Wald erfüllte mein Schwiegervater sein Versprechen und machte sich auf den Weg nach Minsk. Dabei ging es weniger um uns oder die Sehenswürdigkeiten der weißrussischen Hauptstadt als um ihn, wie meist bei Achim.

Anlass, die Strapazen auf sich zu nehmen und die heimische Domäne sowie das eigene Revier zu verlassen, war die Aussicht auf ein weiteres Jagdabenteuer, das so ohne weiteres zu Hause nicht zu haben war. Frühere Ausflüge hatten ihn in den bayerischen Wald, nach Finnland und Ungarn geführt, nun wollte er sein Glück in Weißrussland versuchen. Seine Reise war aber auch eine Reise auf den Spuren der eigenen Geschichte. Im Frühjahr 1945 hatte er als 10-Jähriger das Kriegsende in seinem Elternhaus erlebt. Einschusslöcher zeugen noch immer von den heftigen Kämpfen in der Gegend. Im Haus selbst hatten sich Soldaten der Roten Armee einquartiert, vielleicht waren sie aus dem weißrussischen Teil der Sowjetunion gekommen. Im Schuppen standen die Pferde und Panjewagen, die sie mitgebracht hatten. Sein geliebter Wald erzählt bis heute von der Zwangsarbeit osteuropäischer KZ-Häftlinge und Kriegsgefangener, die bei der Arbeit ihre Spuren in den Rinden der Bäume hinterlassen haben. Oder von den Landsern, die sich nach der erfolgreichen Eroberung von Nazi-Deutschland oder beim späteren Abtransport von Baumstämmen in die Sowjetunion ebenfalls dort verewigt haben. Für Achim gehörten Abenteuer und Wald, große Geschichte und die eigene Biografie schon immer untrennbar zusammen. Die Klammer ist die Jagd.

Die belarussische Natur bietet dafür ein weites Betätigungsfeld. Hirsche, Elche, Wisente und auch Bären reizen den Waidmann, selbst die Keiler sind größer und schwerer in deutschen Wäldern. Die schwierigste ist jedoch die Jagd auf den Wolf, und genau das hatte sich Achim vorgenommen. Gemeinsam mit mir wollte er von Berlin nach Minsk fliegen. An den Tagen vor der Reise saßen wir in seinem Haus und stimmten uns ein. Draußen war es bitterkalt, es war Ende Januar, das Holz in dem alten Kachelofen knisterte und wärmte die Ofenbank. Die Wolfsjagd, wie sie für uns geplant war, und die wir uns hier schon mal ausgemalten, hängt vom Schnee ab. Fast drohte der im Dezember milde Winter einen Strich durch die Rechnung zu machen. Doch das sprichwörtliche Jägerglück hatte sich nach Neujahr mit 20 cm Neuschnee rechtzeitig vor Reisebeginn eingestellt. Nur im Schnee nämlich hinterlässt der Wolf seine Spuren sichtbar für die Jäger. Da Wölfe auf der Nahrungssuche sehr lange Strecken zurücklegen, sie wandern bis zu 80 km in einer Nacht, ist das die einzige Chance, sie aufzuspüren. Die Spurensucher kennzeichnen das Gebiet, durch das der Wolf kurz zuvor gelaufen ist, in der Abend- oder Morgendämmerung, indem sie in manche Richtungen an Kordel aufgehängte, meist rote Stofflappen aufhängen. Diese sollen die Wölfe davon abhalten, in diese Richtung zu entwischen und die Erfolgschancen für die Jäger erhöhen. Oft aber finden die Wölfe trotzdem Schlupflöcher zwischen den Lappen und ziehen weiter, bevor die Jagd begonnen hat. Sie sind „durch die Lappen gegangen“, wie es sprichwörtlich heißt. Die Jäger verharren dann im Abstand von 20 bis 30 Metern stundenlang vergeblich auf kleinen Hockern mit dem Gewehr im Anschlag. Trotz dieser unsicheren Aussichten auf Erfolg verspürte Achim eine fast kindliche Vorfreude.

Vor dem großen Abenteuer in freier Wildbahn allerdings standen bürokratische Hürden. Sie werden, wie so oft in Belarus, vom Staat geschaffen und können auch nur mit seiner Hilfe überwunden werden. Zu diesem Zweck hatten wir uns an die staatliche Jagdorganisation, BelGosOchota, gewandt, die mit Stepan Stepanowitsch ein konkretes Gesicht bekam. Nach und nach räumte er alle Hindernisse nach altbewährtem sowjetischem Muster aus dem Weg. Nach einem Vertrag fragten wir bis zum Schluss vergeblich, mündliche Absprachen und ein Handschlag besiegelten die Verabredung unter Jägern. Eine der Herausforderungen waren die für Diplomanten deutlich strengeren Vorschriften im Vergleich zu ausländischen Jagdtouristen: Während diese mit eigener Waffe einreisen und dann auch schießen dürfen, verbieten die Gesetze im Lande stationierten Abgesandten anderer Staaten das Tragen jeder Waffe und damit auch die Jagd. Eine Regel wie so viele, die sich umgehen ließ.

Auf die nächste Hürde trafen wir am Flughafen Schönefeld. Von dort starten alle Flüge aus der deutschen Hauptstadt in die postsowjetischen Staaten, sofern man dafür die Fluglinien eben dieser Staaten nutzt. Zu diesen gehört Belavia, die staatliche Fluglinie der Republik Belarus. Wir hatten sie gewählt, weil nur sie Direktflüge nach Minsk anbietet, ein Glücksfall, wie sich zeigte, denn auf diese Weise konnten wir von den (post-)sowjetischen Netzwerken profitieren. Zuvor jedoch galt es, an den deutschen Sicherheitsorganen, in diesem Fall der Bundespolizei, vorbei, an den Schalter der Fluglinie zu kommen. Immerhin führten wir ein 7mm Kaliber Jagdgewehr samt Munition mit uns, der Supergau an jedem Flughafen. Diese Inspektion verlief jedoch dank der von BelGozOchota übersandten Unterlagen ohne Probleme, so dass wir den schwierigsten Teil hinter uns glaubten. Am Schalter von Belavia wurde ich herzlich vom örtlichen Chef begrüßt, der die wenigen Fluggäste, die regelmäßig nach Minsk fliegen, persönlich kennt. Während ich eincheckte, waren die Männer bereits in ein Gespräch über die Jagd vertieft, was die ohnehin uneingeschränkt positiven Erwartungen meines Schwiegervaters nur bestärkte. Umso größer war die Irritation auf beiden Seiten, als sich herausstellte, dass uns das eine entscheidende Dokument fehlte, ohne das es „wirklich und unter gar keinen Umständen geht“. Eine Zeitlang sah es tatsächlich so aus, als wäre das bereits das Ende der Geschichte. Dann aber halfen die alten Seilschaften, es folgten mehrere Telefonate, eines davon ein langer Monolog Stepan Stepanowitschs, in dem er den Stationsleiter von Belavia offenbar von der Dringlichkeit der Ausnahme überzeugen konnte. Man kam überein, dass es heute und in diesem konkreten Fall und ausnahmsweise auch ohne dieses Dokument ginge und man uns in Minsk erwarte.

Dort lief alles nach Plan, wenngleich diesen auch nur Stepan Stepanowitsch kannte. Eben jener empfing uns am Flughafen und nahm das Gewehr nach einer eher gelangweilten Prüfung des Zolls zur Aufbewahrung an sich. Die Kontrolle der Munition fiel hier, wie übrigens schon in Berlin, unter den Tisch. Erstaunt darüber, dass wir gar kein Wässerchen zur Begrüßung vorbereitet hatten, stellte unser Gastgeber das Gewehr kurzerhand zu Hause im Flur ab und kam mit einer Flasche Wodka und einem Teller Speck und saurer Gurken zurück zum Auto, um mit uns auf das deutsch-belarussische Jägerglück anzustoßen. Seiner Frau wollte er dieses Begrüßungsritual dann wohl doch nicht zumuten. Von nun an hing alles vom Wetter ab, und dem Wolf. Wo er seine Spuren hinterließ und sich aufhielt war bereits unter genauer Beobachtung der Waldmenschen, die uns am nächsten Tag im Gelände erwarteten. Was auch immer dort passieren sollte – es würde ein Abenteuer werden, mit oder ohne Erscheinen des Wolfs.