Simon

Je weiter wir nach Osten über dieses von Schlachten und Geschichte getränkte Gelände fuhren, desto mehr gewann ich eine Vorstellung von dem zeitweise sehr welligen Charakter der Osteuropäischen Ebene. Diese riesige Großlandschaft zwischen dem Ural im Osten und der heutigen EU-Grenze im Westen, von Karelien und dem Weißen Meer im Norden bis zum Schwarzen Meer im Süden wird auf dem Gebiet des heutigen Weißrussland durchzogen von dem Weißrussischen Höhenrücken, nördlich vom Baltischen Landrücken und im Süden von Polessien und den Prypjat-Sümpfen begrenzt. In seinen Hügellandschaften entspringen die Memel und die Beresina. Die höchste Erhebung von 345 Metern befindet sich nahe der Stadt Dserschinsk westlich von Minsk. Vor Mogiljow gehen seine kleinen Anhöhen und seichten Täler in die Smolensker Höhen über. Russland ist von hier nur ungefähr 100 Kilometer, Smolensk als die erste, größere Stadt auf dem weiteren Weg nach Moskau, nochmal weitere 100 Kilometer entfernt.

In Mogiljow kamen wir bei strahlend blauem Himmel und einem lebhaften, kalten Wind aus Osten an. Die polare Strömung, die den milden Spätsommer in diesem September unterbrach, ließ keine Zweifel darüber aufkommen, dass der Winter bevorstand. Kleine, weiße Wolkenfetzen huschten vorüber, darunter zeigte sich die Stadt von ihrer schönen Seite. Mogiljow ist durch den Dnepr in zwei Seiten geteilt. Die Altstadt auf dem rechten Ufer des Flusses liegt auf einem Hügel. Von einer großen Aussichtsplattform öffnet sich der Blick auf das andere Ufer und die Landschaft. Der Dnjepr nimmt hier den von Norden kommenden, kleinen Fluss Dubrowenka auf und ist immerhin bis zu 100 Meter breit. Er schlängelt sich durch die Stadtteile, seine Ufer sind nicht befestigt. Dadurch entsteht je nach Blickrichtung der Eindruck, nicht in der drittgrößten Stadt Weißrusslands zu sein, sondern irgendwo auf dem Land.  Holzhäuser und Nutzgärten schmiegen sich an das Ufer, Kühe weiden auf dem satten Grünstreifen und Frauen mit schweren Röcken und Kopftüchern schleppen Gemüse und Kartoffeln zwischen den Gehöften. Wie überall sonst im Land sind aber auch in Mogiljow die sogenannten privaten Sektoren keine Idylle, sondern ein Mosaikstein im Kampf ums Überleben. Lässt man den Blick schweifen, so bleibt er schnell wieder an den immer näher rückenden Hochhäusern der Schlafstädte hängen. So heißen die sind bis zu 20 Stockwerke hohen Wohnblocks, die so wenig einladend und weit draußen sind, dass ihre Bewohner sie am liebsten nur zum Übernachten nutzen würden. Tatsächlich wohnen die weitaus meisten Menschen den Städten so. Sie verbringen einen Großteil ihres Lebens in diesen Anlagen aus Wolkenkratzern, Parkplätzen und dünn begrünten Innenhöfen mit Bänken und Kinderspielplätzen, die das Gefühl eines trostlosen Daseins nur noch verstärken. Legendär wurde die immer gleiche Bauweise dieser Plattenbausiedlungen durch den Film Ironie des Schicksals aus dem Jahre 1975. Der Held des Films steigt am Ende einer feucht-fröhlichen Silvesternacht versehentlich am Moskauer Flughafen in den Flieger nach Leningrad, mit dem eigentlich sein Freund zurück in seine Heimatstadt hätte fliegen sollen. Vom Alkohol benebelt, bemerkt er den Fehler nicht und nennt dem Taxifahrer nach seiner Ankunft in Leningrad seine Adresse: 3. Bauarbeiterstraße, Nr. 25. Ohne mit der Wimper zu zucken setzt ihn der Taxifahrer dort ab, denn auch in Leningrad gibt es eine Straße mit diesem Namen. Da alles genauso aussieht wie in Moskau, findet der Filmheld seinen Eingang, sein Stockwerk, seine Wohnung, und sogar der Schlüssel passt. Und es geht noch weiter: Selbst die Raumaufteilung war in diesen Anlagen immer dieselbe, so dass er erst das Bad benutzt und sich dann ins Bett legt. Erst als ihn die geschockte Bewohnerin ihn im Bett findet, fällt ihm auf, was passiert ist. Die Dinge nehmen ihren Lauf, und natürlich gibt es ein Happy End. Die bittersüße Komödie ist bis heute sehr beliebt und flimmert zum Jahresende auf fast allen Bildschirmen über die Fernseher.

In Mogiljow befinden sich die Schlafstädte überwiegend auf dem unteren, linken Dnjepr-Ufer. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, dass es früher oft überflutet war. Man nannte es aufgrund der hier gelegenen Schulgebäude der jüdischen Bevölkerung auch die Schulstadt. Heute sieht man die goldenen Kuppeln großer orthodoxer Kirchen, von denen eine gerade im Bau ist. Wir waren unterwegs mit Simon, einem Mitglied der kleinen Jüdischen Gemeinde. Stolz führte er uns durch seine Stadt. Er sprach lange und viel, während wir uns immer tiefer gegen den böigen Ostwind in unsere dicken Jacken und Mäntel verkrochen. Vermutlich gab es nicht so oft eine Gruppe westlicher Ausländer, die sich für die Spuren der jüdischen Bevölkerung Mogiljows interessierten. Jedenfalls war er nervös und verhedderte sich immer wieder bei Jahreszahlen oder Namen. Als er von der wechselvollen Geschichte seiner Glaubensbrüder erzählte, schien er selber mitzuleiden. Ihn plagte ein trockener Husten, der ihm bisweilen die Tränen in die Augen trieb. Mir fiel das besonders auf, als er von einem Ereignis erzählte, an das die Gemeinde bis heute mit einem eigenen Gedenktag erinnert. Die Stadt gehörte damals zum Großfürstentum Litauen, das seit der Lubliner Union 1569 Teil eines litauisch-polnischen Doppelstaates war. Von Osten nahm nach dem Zerfall der Goldenen Horde der Tataren der Druck Moskaus zu, immer wieder kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen auch in den weißrussischen Gebieten. Die Juden hatten dabei oft unter schweren Pogromen und Plünderungen zu leiden. Besonders hart traf es die jüdische Gemeinde Mogiljows während des russisch-polnischen Krieges 1654. Um Schlimmeres zu verhindern, entschieden sich die Bürger, ihre Stadt den russischen Belagerern zu übergeben, unter der Bedingung deren Selbstverwaltung zu bewahren. Außerdem wurde vereinbart, die Juden zu vertreiben und ihre Häuser zwischen der Stadtverwaltung und den russischen Besatzern aufzuteilen. Als die Juden der Aufforderung, die Stadt zu verlassen, nicht Folge leisten wollten, trieben die russischen Truppen sie zusammen und gaben vor, sie den Polen zu übergeben. Tatsächlich wurden sie in einer Schlucht vor der Stadt auf brutale Weise erschlagen. Simons Ausdruck wurde bei seiner Schilderung noch trauriger als zuvor. Mir lieg ein Schauer über den Rücken. Obwohl der nichts mit der Kälte zu tun hatte, wickelte ich meinen breiten Schal noch einmal fester um Hals und Wangen.

Diejenigen, die geblieben und von dem Massaker verschont geblieben waren, mussten eine Zwangstaufe über sich ergehen lassen. Als die polnischen Truppen zurückkehrten, begann auch die jüdische Gemeinde sich zu erneuern. Dass damit aber alle Probleme gelöst gewesen seien, es unter polnischer Herrschaft keine antisemitischen Übergriffe und bürokratischen Beschränkungen für die Juden gegeben habe, mochte Simon so auch nicht stehen lassen. „Juden hatten es immer schwer in dieser Region, wurden herumgeschubst und drangsaliert. Das 20. Jahrhundert war nur der Höhepunkt dieser Leidensgeschichte“, murmelte er in seine Hand, die er sich bei einem erneuten Hustenanfall vor den Mund hielt. Es schien fast, als schämte er sich, dass es eigentlich nichts anderes als Kummer und Unglück über die Geschichte der osteuropäischen Juden zu erzählen gab.

Mit diesen traurigen Eindrücken machten wir uns auf den Weg, froh, dem mittlerweile eisigen Wind zu entkommen. Durch die schmalen Gassen, vorbei an dem ältesten Haus der Stadt, das von den Zerstörungen verschont geblieben war und heute ein Gericht beherbergt, führte Simon uns zu einem Gedenkstein für eine noch viel größere Katastrophe in der Geschichte der Juden. 2009 hatten die Jüdische Gemeinde und Bürger der Stadt dieses Mahnmal für die von den Nationalsozialisten ermordeten Juden Mogiljows am Rande des ehemaligen Ghettos aufgestellt. Auf dem Weg erzählte er uns, immer noch schniefend von Husten und Kälte, dass Mogiljow, wie alle weißrussischen Gebiete, Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der polnischen Teilungen an Russland gefallen war. Damit verschlechterte sich die Lage für die Juden erneut. Zar Alexander I. setzte die restriktive Politik seiner Vorgängerin, Katharina der Großen, fort und traf selbst eine folgenschwere Entscheidung. Sein Erlass über den sogenannten Ansiedlungsrayon 1804 erlaubte Juden im gesamten russischen Imperium nur noch in dafür vorgesehen Regionen zu siedeln. Die Folge war, dass sie sich in den Städten konzentrierten, um Arbeit zu finden und ein Auskommen zu haben. In den weißrussischen Gebieten machten die Juden Ende des 19. Jahrhunderts daher vielerorts mehr als die Hälfte aller Stadtbewohner aus. Zu den oft ärmlichen Verhältnissen kamen regelmäßige antisemitische Ausschreitungen, die unter den Bedingungen einer zwangsweisen Russifizierung um die Jahrhundertwende einen Höhepunkt erreichten. Bei der großen Volkszählung im Russischen Reich 1897 lebten 21.539 Juden in Mogiljow, das waren etwa 50% der Stadtbevölkerung. Sie lebten unter anderem vom Handel mit Brot und Leder, der Produktion von Streichhölzern, Kerzen und Pelzen oder der Destillation von Wodka.

Die Revolution schien zunächst ein Lichtblick für die Juden zu sein. Nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 entfielen alle Einschränkungen, sie waren nun allen anderen Bürgern im Russischen Reich gleichgestellt. Die jiddische Sprache blühte auf, Zeitungen und Zeitschriften und ein jüdisches Kulturleben fanden ein dankbares und interessiertes Publikum in den Städten. Politische Gruppierungen und Parteien stellten sich erfolgreich zu den erstmals stattfindenden Wahlen. Doch schon nach dem Oktoberputsch Lenins und seiner Bolschewiki ging diese neue politische und soziale Freiheit in dem Wirren des Bürgerkrieges und dem Terror der neuen Machthaber wieder verloren. Im Westen des Landes kam der polnisch-sowjetische Krieg hinzu, der das Land für die nächsten 20 Jahre in eine polnische und eine sowjetische Hälfte teilte. Mogiljow gehörte zur neu gegründeten Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik, in der die Juden von einer relativen Freiheit profitierten. Die Ideologie des sogenannten Neuen Menschen versprach auch ihnen die freie Entfaltung ihrer Sprache und Kultur. Zugleich war Religion aber Opium für das Volk und ihre freie Ausübung ein leeres Versprechen. Von den 1911 noch bestehenden 38 Synagogen und jüdischen Einrichtungen wurden die meisten geschlossen, die letzten Ende der 30er Jahre. Machten Juden 1926 noch 34% der Bevölkerung in Mogiljow aus, waren es 1939 nur noch knapp 20 %.

Als wir den Gedenkstein erreichten, hatte sich mein ungutes Gefühl noch verstärkt. Am ehesten war es woh eine Art Beklemmung. Wir alle konnten nun nachempfinden, was Simon so bedrückte, dass nämlich die Geschichte der Juden in Mogiljow und Weißrussland wenig Anlass zu Trost und Hoffnung bietet. Und das Schlimmste stand ihnen ja noch bevor. Daran erinnerte der große Stein, ein naturbelassener, heller Findling mit zahlreichen Abdrücken von Händen. Der Anblick war rührend, hilflos wirkte der Versuch, das Unfassbare begreifbar zu machen. Linke und rechte, kleine und große, in den Stein gemeißelte Hände mit gespreizten oder geschlossenen Fingern erinnerten an die vielen Menschen, jeder und jede anders und besonders. Hier waren sie nicht vergessen. Von dieser Stelle aus öffnete sich der Blick in einen tiefer gelegenen Stadtteil nahe dem Flüsschen Dubrowenka mit kleinen und niedrigen Häusern inmitten einer grünen Oase. Dort hatte sich nach der Besetzung der Stadt Ende Juli 1941 eines der beiden Ghettos in der Stadt befunden, in denen die Juden, die nicht mehr hatten evakuiert werden können, zusammengepfercht leben mussten. Die meisten von ihnen wurden hier von Wehrmachtseinheiten, deutschen Einsatzgruppen und ihren lokalen Helfern erschossen, die anderen in Arbeits- und Konzentrationslager abtransportiert. Allein im September und Oktober waren es 8.000 Menschen. Nach dem Krieg sprach die sogenannte „Außerordentliche Staatliche Kommission für die Feststellung und Untersuchung der Gräueltaten der deutsch-faschistischen Aggressoren und ihrer Komplizen, und des Schadens, den sie den Bürgern, Kolchosen, öffentlichen Organisationen, staatlichen Betrieben und Einrichtungen der UdSSR zugefügt haben“ von über 10.000 jüdischen Opfern. Bis heute wissen wir nicht genau, wie viele Juden in Mogiljow infolge der NS-Besatzung ums Leben kamen, und auch nicht, wie viele den Krieg überlebten. Als Mogiljow am 28. Juni 1944 von der Roten Armee befreit wurde, war die jüdische Bevölkerung so gut wie ausgelöscht. Und mit ihr ein Teil der jüdischen Kultur in Osteuropa. An keinem anderen Ort habe ich die Tragödie der belarussischen Juden schmerzlicher empfunden als hier.

Titelfoto: Mogiljov, 2019. © K. Janeke