Die Beresina
Nach Osten hin, zur russischen Grenze, ist die Landschaft hügelig und gefällig. Große landwirtschaftliche Flächen, Brachland und kleine Seen gesäumt von dichtem Mischwald, dazwischen gewachsene Dörfer mit Holzhäusern und Gemüsegärten. Der schöne Anblick wird gestört durch die die sogenannten Agrosiedlungen, seit Anfang der 2000er Jahre künstlich angelegte ländliche Wohneinheiten aus immer gleichen Einfamilienhäusern und Funktionsgebäuden. Sie sollen helfen, die Landflucht einzudämmen, indem sie das Leben auf dem Land mit dem Komfort der sozialen sowie wirtschaftlichen Infrastruktur einer Stadt verbinden. Auf der Europastraße 30, der wichtigsten Straßenverbindung zwischen Westeuropa und Russland, waren wir unterwegs von Minsk nach Mogiljow. In Weißrussland heißt dieser Teil der Autobahn M 4 und ist hervorragend ausgebaut. Man weiß das erst zu schätzen, wenn man die ansonsten nicht gekennzeichnete Grenze zu Russland passiert.
Bei Berasino überquerten wir den Fluss, von dem das Städtchen seinen Namen hat. Etwa 70 km weiter nördlich am Flusslauf auf den Brilewki-Feldern nahe dem Dorf Bryli hat sich eine der größten militärischen Katastrophen in der Geschichte ereignet. Hier fand im November 1812 der Russlandfeldzug Napoleons sein unrühmliches und erbarmungsloses Ende. Nur fünf Monate zuvor hatten etwa 350.000 Soldaten der Grande Armée auf weißrussischem Gebiet den Grenzfluss Memel, auf russisch Njomen, überquert, kurz darauf auch die Beresina, mit dem Ziel, das russische Imperium zu bezwingen. Tatsächlich zog der französische Kaiser im September in den Kreml ein, allerdings konnte er von dort nur fassungslos auf das brennenden Moskau blicken. Die Russen hatten den Vormarsch der gegnerischen Armee durch die Taktik der verbrannten Erde ins Leere laufen lassen und sich schließlich sogar entschlossen, die eigene Hauptstadt in Brand zu setzen, nur, um sie dem Feind nicht zu überlassen. Und so kam es, wie der russische Zar Alexander I. es dem französischen Kaiser bereits 1808 vorhergesagt hatte: „In Europa ist kein Platz für uns beide!“
Der Rückzug der Besatzer endete in einer Katastrophe und markierte den Anfang vom Ende der Herrschaft Napoleons in Europa. Der erneute Übergang über die Beresina, dieses Mal gen Westen, war der letzte Akt dieses militärischen Manövers, das nur wenige Zehntausend überlebten. Neben Frankreich hatten das Großherzogtum Baden und die Königreiche Württemberg und Bayern besonders hohe Verluste zu beklagen. Sie gehörten zu den von Frankreich unterworfenen und verbündeten Nationen und hatten einen Großteil der Armee des Russlandfeldzugs stellen müssen. Bis heute erinnern daran zahlreiche Gemälde in den Ausstellungen im Karlsruher oder Stuttgarter Schloss. Sie zeigen abgekämpfte Männer in zerrissenen Uniformen, die Gesichter starr vor Angst und Kälte, umgeben von einer Landschaft aus Eis und Schnee. Der Winter war früh hereingebrochen und hatte sich erbarmungslos über das ganze Land gelegt. Seinetwegen war es unmöglich für die Armeeführung gewesen, rechtzeitig ein geeignetes Rückzugsquartier zu finden. Das Wetter ließ keine Alternative zu einem ungeordneten und planlosen Rückzug. Entkräftet durch Hunger und Frost, geschwächt durch Typhus und Ruhr flohen die Soldaten teils panisch vor der neu aufgestellten Armee des Zaren. Auf dem Weg kam es immer wieder zu Gefechten, schlimmer noch aber waren die brutalen Racheaktionen der russischen Bauern. Das selbst erlittene Leid, den Verlust von Land und Familie, zahlten sie dem Feind nun in barer Münze heim. Sie erschlugen, erhängten und erstachen jeden, der ihnen in die Hände fiel. Nur weg und nach Hause, rette sich, wer kann war das Einzige, was den Besiegten übrigblieb. Das muss sich auch der Napoleon gedacht haben, als er seine Truppen in dieser trostlosen Lage allein ließ und in einem Schlitten nach Paris flüchtete. Auch er überquerte die Beresina. In dem Dorf Alt-Borissow auf der anderen Seite des Flusses stehen noch immer Reste eines Seitenflügels des Anwesens, in dem Napoleon übernachtet hat.
Ein Museum für den Kaiser gibt es in dieser Gegend nicht. Die Erinnerung hat das Staatliche Historische Museum in Moskau übernommen, es zeigt seit einigen Jahren eine Ausstellung über den Feldzug Napoleons und die heldenhafte Verteidigung durch die russischen Truppen. Schließlich ist diese als der Vaterländische Krieg in die Annalen eingegangen und ist damit die Referenz für den Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945, in dem sich die Sowjetunion gegen die Barbarei der Nationalsozialisten verteidigt und den Sieg davon getragen hat. Den Sieg, der das Land bis heute zusammenhält. Wie anno 1812 war es das Volk, das sich gegen die feindlichen Eindringliche erhoben und sie aus der Heimat vertrieben hat.
Mild war der Winter dagegen am 200. Jahrestag des historischen Geschehens. Das fiel mir nun wieder ein, als wir die Beresina auf den historischen Spuren überquerten. Ich erinnerte ich mich an die eindrucksvolle Nachstellung der Schlacht, die wir hier 2012 zum Gedenken an die Ereignisse erlebt hatten. Mehr als hundert Beteiligte in originaltreuen Uniformen, historische Klubs aus Polen, Frankreich, Litauen, Russland und Deutschland hatten das jahrelang geprobt. Solche Re-Enactments sind in Weißrussland und der gesamten Region sehr beliebt. Ein Museumskollege aus Kaunas hatte mir mal erzählt, wie er und seine Freunde sich auf ihre Auftritte vorbereiten. An langen Winterabenden nähen sie die Uniformen und studieren Gefechtsformationen. An den freien Wochenenden wird draußen, vor den Toren der Stadt gekämpft. Erst später habe ich mich gefragt, ob mein Kollege auch an diesem nebeligen Novembertag dabei war, als bei Nieselregen die in ihrer Leidenschaft vereinten Soldaten mit Fahnen und Standarten auf ihren Pferden den Hügel herauf galoppierten. Schüsse fielen, Kanonendonner dröhnte in den Ohren, der Geruch von Schwarzpulver mischte sich in die frische Herbstluft. Unter den in Mützen und Jacken gehüllten Zuschauern waren insbesondere die Großväter mit ihren Enkeln von kindlicher Freude über dieses Schauspiel erfasst. Als die Truppen des russischen Generals Kutuzow zum Gegenangriff ausholten, schauten die französischen Vertreter des zahlreich vertretenen Diplomatenkorps leicht verkniffen unter ihren steifen Kopfbedeckungen.
Mit der erneuten Überquerung des Njomen Mitte Dezember 1812 in Richtung Westen verließen die echten Eindringlinge die weißrussischen Gebiete wieder. Damit endete dieser erste von zwei vergeblichen Versuchen, das große russische Reich zu erobern. 1942 erlag Adolf Hitler der Versuchung und rannte ebenso wie Napoleon in sein militärisches Verderben. Weißrussland, damals die Belorussische Sozialistische Sowjetrepublik, konnte er noch mit einem Blitzkrieg einnehmen. Die Beresina überquerte die Wehrmacht Anfang Juli. Und wieder war es Moskau, das dieses Mal im Winter 1941/42 die Wende brachte. Geholfen hat wieder die Natur mit einm unerbittlichen Winters, der wie schon 129 Jahre zuvor früh und mit voller Wucht hereinbrach. Zweimal stand die Witterung auf Seiten der Russen und hat ihr Land im entscheidenden Moment vor der Eroberung gerettet. Der deutsch-sowjetische Krieg kostete bis 1945 noch viele Opfer, über 27 Millionen waren es am Ende. Zum Untergang der deutschen Truppen hat 1944 auch eine schwere Niederlage an der Bresina während der Sommeroffensive der Roten Armee beigetragen.
Titelfoto: Re-enactment zum Jahrestag 2012. © K. Janeke