Äpfel für den Zaren

Als letztes wollte Simon uns die Synagoge zeigen, endlich ein Blick in die Zukunft, ein Hoffnungsschimmer. Als wir den Theaterplatz überquerten und er uns von dem Schauspielhaus erzählte, waren wir alle erleichtert, für einen kurzen Moment den bedrückenden Spuren der Stadtgeschichte zu entkommen. Landesweit berühmt sei diese Bühne, selbst aus Minsk kämen Theaterfans, um Aufführungen und Inszenierungen hier zu sehen, die in der Hauptstadt auf dem Index stünden, schwärmte Simon stolz und fuhr fort: „Gebaut wurde es im Stil des russischen Historismus Ende des 19. Jahrhunderts“. Tatsächlich erinnerte der massive rote Backsteinbau mit den burgartigen Verzierungen an das Staatliche Historische Museum auf dem Roten Platz in Moskau. „Schon Zar Nikolaus II. und seine Familie haben das Theater besucht.“ In Mogiljow befand sich während des Ersten Weltkrieges das Oberkommando der Armee. Schon in den ersten Jahren des Krieges war der Zar öfter hier gewesen. Weil seiner Meinung nach die Niederlagen Russlands in diesem Großen Krieg auf die Unfähigkeit der Kommandeure zurückging, hatte er 1916 kurzerhand selber die Befehlsgewalt übernommen und war dazu mit der Zarin, seinem Sohn Alexej und den vier Töchtern Olga, Tatjana, Anastasia und Maria nach Mogiljow übergesiedelt. Das Ruder bei der Kriegsführung konnte er nicht mehr rumreißen, im Gegenteil, die militärischen Niederlagen häuften sich, und die ohnehin schon schwelenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme im Land gipfelten schließlich im vierten Kriegsjahr in der Februarrevolution.

All das, ließ Simon verschmitzt einfließen, war auch seine Geschichte. Zu dieser Zeit nämlich handelte sein Urgroßvater mit Obst und Gemüse. Auch an den Haushalt der Zarenfamilie verkauften sie ihre Ware. Zuletzt noch im Januar 1917. Als sich im Februar die Lage in der Hauptstadt zuspitzte, brach Nikolaus nach Petersburg auf. Er zweifelte nicht im Geringsten daran, dass allein seine bloße Anwesenheit die Aufständischen beruhigen würde. Ob er einige der Äpfel, die Simons Großvater geliefert hatte, als Wegzehrung mitgenommen hat, ist nicht bekannt. Sicher ist aber, dass in der Eile des Aufbruchs vergessen wurde, sie zu bezahlen. Dieses Versäumnis trägt ihm die Familie bis heute nach, nicht nur, weil man das Geld dringend gebraucht hätte, sondern weil es den festen Glauben an den guten Zaren ins Wanken gebracht hatte. „Seit dieser Zeit gab es in unserer Familie jedenfalls keine Monarchisten mehr“, grummelte Simon. „Und es geschah ihm recht, dass er, noch bevor er Petersburg erreicht hatte, in dem Zug, in dem er Mogiljow verlassen hatte, auf den Thron verzichten musste und später hier in dieser Stadt verhaftet wurde.“ Er schaute drein, als wolle er sagen, dass Russland viel Leid erspart geblieben, hätte Nikolaus die Äpfel bezahlt und damit die harte Arbeit seiner Untertanen gewürdigt.

Ein Anhänger späterer Machthaber war Simon freilich auch nicht. Auf unserem Weg zur Synagoge schilderte er uns die Pläne der Zentralregierung in Moskau, Mogiljow am Vorabend des Zweiten Weltkrieges zur Hauptstadt der weißrussischen Sowjetrepublik zu machen. Davon zeugt bis heute das Gebäude der Stadtverwaltung. Es ist eine Kopie des ebenfalls von dem Architekten Josef Langbard entworfenen Minsker Regierungsgebäudes, nur etwas kleiner natürlich. Bis heute steht Lenin davor – wie in Minsk. Und weil die Stadt an vielen Stellen auffällig an Minsk erinnert, wurden auch gleich aktuelle Denkmäler, wie sie in der Hauptstadt stehen, für Mogiljow kopiert. So zum Beispiel die in Bronze gegossene Dame mit dem Hündchen, die hier auf den Stufen des Theaters, in Minsk vor der Oper steht. Aus seiner Geringschätzung für eine solche, gleich zweifache Einfallslosigkeit machte Simon keinen Hehl.

Die Synagoge empfing uns an einem ganz besonderen Tag. Der Hauptrabbi von Belarus war zu Besuch. Das ist er zwar öfters, da er selber aus der Umgebung stammt, aber ein Anlass zum Feiern war das trotzdem. Der Rabbi Mordechai Raichinstein begrüßte uns freundlich in den schichten Räumlichkeiten. Das Haus war ein modernes Funktionsgebäude, früher war hier eine Schule untergebracht. Nichts deutete auf eine geistliche Nutzung hin. Die Wände waren kahl, in den Räumen standen einfache Tische und Stühle, im Flur und unter der Treppe stapelten sich Kisten, eine Leiter, Taschen und weitere Stühle. Trotzdem strahlte das Gebäude Wärme aus und wirkte einladend. Die Türen zu den meisten Zimmern waren offen, auf den Tischen lagen aufgeschlagene Bücher, benutzte Teetassen und Teller mit Gebäck vermittelten das Gefühl von einem lebendigen Alltag. Aus dem Raum im Erdgeschoss, direkt neben dem Eingang drangen kräftige männliche Stimmen. Ich konnte nicht verstehen, in welcher Sprache wie sich unterhielten. Mordechai lachte und erzählte uns, dass hier russisch, jiddisch und hebräisch durcheinander gesprochen werde. Auf meine Frage, ob auch belarussisch dazugehöre, nickte er kräftig und sagte: „Das sage ich ja, russisch.“

Die Gemeinde hatte mehrere Anträge gestellt, eine der beiden letzten alten Synagogen zurück zu bekommen, aber die Stadt hatte das abgelehnt. In einem Fall befindet sich dort heute eine Abteilung der öffentlichen Verwaltung, das andere ehemalige Gebetshaus ist von einem Boxclub belegt. Das erinnert an die bewusst respektlosen Umwidmungen von Kirchen und Synagogen in der Sowjetzeit, aber Mordechai sah das gelassen. „Hauptsache, wir haben Räume, in denen wir uns versammeln und beten können“, meinte er. „Es ist zwar klein, aber hier haben wir schon mit 250 Personen Hochzeiten und andere Familienfeste gefeiert. Für uns ist es der Mittelpunkt unseres jüdischen Alltags, hier bewahren wir unsere Thorarollen auf. Das schweißt uns zusammen.“ Von den heute 3.000 Juden in der Stadt sind nur die wenigsten aktive Gemeindemitglieder, viele sind nach dem Ende der Sowjetunion nach Israel, in die USA oder Deutschland emigriert. „Aber das geht den christlichen Kirchen ja nicht anders“, schmunzelte der Rabbi. Er strahlte eine Fröhlichkeit aus, die ansteckend wirkte. Er war klein und korpulent, auf dem Kopf die Kippa. Beim Sprechen wippte er leicht von der Ferse auf die Zehenspitze, die Hände auf dem Rücken. Seine Augen waren von Lachfältchen gerahmt und strahlten. Er schien sich über unseren spontanen Besuch zu freuen, lächelte in sich hinein und war, obwohl er sicher anderes zu tun hatte, mit voller Aufmerksamkeit bei uns. Anders als Simon, der unter der Last der Geschichte zu leiden schien, freute sich der Rabbi über das, was er sah – seine kleine, aber lebendige Gemeinde. So fand auch unser Rundgang auf den traurigen Spuren der jüdischen Geschichte in Mogiljow noch ein versöhnliches Ende. Äpfel habe ich übrigens nicht auf dem Tisch stehen sehen.

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