„Unnütze Esser“
An diese Ereignisse erinnert heute nur noch ein kleines Denkmal mit einer Informationstafel in deutscher und russischer Sprache auf dem Gelände der ehemaligen psychiatrischen Klinik. Das wollte ich mir ansehen, und weil die Klinik am Rande des Stadtzentrums liegt, entschied ich, mir ein Taxi zu nehmen. Über die zentrale Taxirufnummer 7202 kam Sergei mit einem alten, grauen Peugeot angefahren, um mich am Rathausplatz abzuholen. Fürsorglich rief er mich auf der bei der Bestellung hinterlegten Handynummer an, um sich zu erkundigen, wo genau im Gewirr der altstädtischen Einbahnstraßen ich auf ihn wartete. Sergei entpuppte sich als ein Glücksfall, weil er mich nicht nur zügig durch den Stadtverkehr steuerte, sondern auch noch sehr auskunftsfreudig war. Von Euthanasie oder dem Generalplan Ost hatte er noch nie etwas gehört, wusste aber sofort, wo wir suchen mussten. Erst aber wollte er wissen, wo ich herkomme und warum ich russisch spreche. Er erzählte mir von seinen Freuden in Düsseldorf, die er schon lange besuchen wollte, was bisher aber an den Finanzen gescheitert sei. „Eigentlich bin ich Ingenieur, es gibt aber keine Jobs, und so muss ich Taxi fahren, um die Familie durchzubringen.“ Es war eine Feststellung, keine Klage. Auf meine Nachfragen nach den Gründen für diese missliche Lage, schimpfte er auf die wirtschaftliche Lage und die Faulheit seiner Mitmenschen. „Wir sind bequem und erwarten alles vom Staat. Da kann sich ja die Wirtschaft nicht entwickeln. In Deutschland habt Ihr diese Probleme nicht, da läuft es. Nur Merkel ist natürlich ein Problem. Und die vielen Flüchtlinge. Aber das ist eben Politik.“
„Und was halten Sie von der Politik in Russland? Haben die Leute Angst vor einer Übernahme durch den großen Nachbarn?“, wollte ich wissen.
Er lachte. „Angst hat hier niemand, den Russen gehört doch schon das ganze Land. Und für die Wirtschaft wäre es besser, wenn wir eine gemeinsame Währung hätten. In Russland gibt es Arbeit“, fuhr er fort, und erzählte mir von seinem Bekannten in der Mstislaw, einem weißrussischen Städtchen vor der Grenze zu Russland. „Als neulich seine Tochter geheiratet hat, waren nur Frauen und Alte auf der Feier. Die Männer sind alle in Russland bei der Arbeit.“ Kein Wort der Kritik, keine Fragen, Fakten eben. Aus Mstislaw, fiel mir dabei ein, stammte auch der bekannte jüdische Gelehrte und Politiker Simon Dubnow, von dem wir auch gestern in der Synagoge gesprochen hatten, aber das gehörte natürlich nicht hierher.
In der Zwischenzeit waren wir fast da. Auf der rechten Straßenseite konnte ich an einem etwas zurück gelegenen Gebäude die im Navigationssystem angegebene Hausnummer erkennen. „Das kann nicht sein“, wandte Sergei ein, bremste aber ab und fuhr in die Einfahrt. „Hier ist nicht die Klinik, sondern ein Dorf für schwererziehbare Kinder und ihre Familien.“ Ich dachte an die frühere Hauptanstalt und sogenannte „Psych. Kolonie“ für die Verrichtung von Zwangsarbeit durch die arbeitsfähigen Patienten. Wir fuhren auf das großzügige Gelände, das wie ein Feriendorf wirkte. Kleine, adrette Häuschen in Fertigbauweise standen in verschiedenen Abständen nebeneinander, umgeben von gepflegten Rasenflächen und Blumenbeeten. Dazwischen Bäume und Bänke, ein Abenteuerspielplatz und Grillplätze. Es war mitten am Vormittag, Kinder waren nicht zu sehen, dafür mehrere Frauen mit nach hinten gebundenen Kopftüchern in grünen Overalls mit orangenen Warnstreifen, die mit Reisigbesen die blitzsauberen Straßenkanten fegten und die ersten heruntergefallenen Herbstblätter zusammenharkten. Wir hielten vor einer Werkstatt, in der ein junger Mann hinter den weit geöffneten Toren an einem Wagen schraubte. Sergei sprang aus dem Auto und frage nach der Gedenktafel. Von meinem Platz auf der Rückbank aus konnte ich hören, wie er die Situation erklärte: „Eine Frau aus Deutschland, spricht aber gut russisch, sucht eine Gedenktafel für die Gräueltaten der Faschisten (hier benutzte er eine oft gebräuchliche, fest stehende Formulierung der Geschichtsbücher). Du glaubst es nicht, aber sie haben die Patienten im Krankenhaus vergast, man fasst es nicht. Na, wie dem auch sei, das muss doch hier sein, hier ist doch das Krankenhaus.“ Der andere nickte, hob die Augenbrauen und schüttelte dann bei der Erwähnung der Faschisten den Kopf. Dabei wischte er sich die ölverschmierten Hände mit einem ebenfalls mit Öl verschmierten Handtuch ab und überlegte. Ja, das Krankenhaus sei hier, aber die Einfahrt weiter oben. Hier könne das nicht sein, das Gelände kenne er, keine Gedenktafel. „Was haben die mit denen gemacht? Vergast?“ Wieder Kopfschütteln und ratloses Händereiben. „Ihr müsst wieder aus, die Straße hoch und dann nach der Kurve in die Einfahrt. Das kann nur dort sein.“ Ich hatte das Fenster runtergefahren, gegrüßt und hörte zu. Er musterte mich ohne besonderes Interesse, wunderte sich keineswegs über meinen Wunsch, den Gedenkort zu finden, sondern zog noch einige andere Möglichkeiten in Betracht, wo dieser sein könnte, verwarf sie aber wieder. Ich bedankte mich für seine Hilfe. Jetzt lächelte er zum ersten Mal, doch irgendwie erleichtert, dass man sich mit mir verständigen konnte. „Das muss dort sein. Ich wusste das bisher nicht, aber Geschichte ist wichtig. Und die Erinnerung. Wir dürfen das nie vergessen!“, bekräftigte er zum Abschied, drehte sich um und verschwand hinter dem Auto.
Wir fanden die Tafel und ein kleines Denkmal an einem roten Backsteinhaus, da, wo der Mechaniker es vermutet hatte. Ich entdeckte es zuerst, als Sergei schon dachte, wir seien doch am falschen Ort. Viel zu klein und unscheinbar sei das, schimpfte er. Offenbar hatte er angesichts der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen etwas Monumentales erwartet. Zu sehen waren zwei Tafeln, eine auf deutsch und eine auf russisch, an der Hauswand, rechts und links von einem Mahnmal auf einer Granitplatte. Das hohe Gedenkzeichen bestand aus einem groben und grauen, rechteckig zugeschnittenen Stein, in der Mitte von einer angedeuteten menschlichen Silhouette und einer Fensteröffnung durchbrochen. Die auf der Bodenplatte angebrachte Inschrift lautete: „Dem Andenken an die Patienten des Mogiljower Staatlichen psychiatrischen Krankenhauses, 1941-1942 ermordet von den deutschen Besatzern durch Gas und Kugeln.“ Als wir aus dem Auto stiegen, kam gerade eine stämmige Frau mittleren Alters in einem weißen Kittel und einer steifen, hohen Haube aus dem Gebäude. Akten unter dem Arm, ging sie zielstrebig in Richtung eines gegenüberliegenden Hauses, blieb dann aber stehen, als sie uns sah. „Kommen Sie aus Deutschland?“ Sie richtete ihren strengen Blick auf mich und senkte den Kopf leicht, um mich über den Rand ihrer Brille zu mustern. Ich nickte. „Das Haus war früher das Hauptgebäude der Klinik, heute ist hier nur die Verwaltung.“ Es klang, als wolle sie uns in jedem Fall davon abbringen, reinzugehen. Ohne weiteren Kommentar ging sie weiter ihres Weges und ließ uns allein.
Sergei und ich lasen die Tafeln, er die russische, ich die deutsche. Es erforderte einige Mühe, den mittig gesetzten Text in kleiner weißer Schrift auf schwarzem Grund zu lesen. Nüchtern war hier zusammengefasst, was genau passiert war. Nachdem die Wehrmacht die Stadt am 26. Juli 1941 besetzt hatte, trafen Anfang August das Einsatzkommando 8 der Einsatzgruppe B unter dem Befehl von Otto Bradfisch ein. Kurz danach wurde der jüdische Klinikdirektor, Dr. Meer Mojsejewitsch Klipzan, verhaftet. Sein Nachfolger, Dr. Alexander Stepanow, musste Listen „arbeitsfähiger“ und anderer Patienten erstellen, entsprechend wurden diese aufgeteilt. Einige wurden sofort von Angehörigen des Einsatzkommandos erschossen, andere mussten in der nahe gelegenen landwirtschaftlichen Kolonie für psychisch Erkrankte Zwangsarbeit leisten. Im September 1941 testete die SS an fünf Patienten die Tötung durch Abgase, die man in einen Raum in dem Gebäude leitete. Die Menschen starben einen langsamen, grausamen Tod. Dabei entstanden Filmaufnahmen, die das Experiment festhalten sollten. Sie kamen später bei den Nürnberger Prozessen als Beweismittel zum Einsatz. Durch diese „erfolgreiche“ Methode starben im selben Jahr noch 800, im Januar 1942 weitere Patienten. Ghettobewohner zwang man, die Leichen zu verscharren, wo die Sonderkommission der Roten Armee zur Feststellung der nationalsozialistischen Verbrechen sie im September 1944 fand. „Nun ist Mogiljow frei von Verrückten“, so fasste es der ehemalige Kraftfahrer des Einsatzkommandos, Georg Frentzel, bei seiner Vernehmung 1970 zusammen. Er war auf der Grundlage detaillierter Recherchen durch die Staatssicherheit der DDR vor dem Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt angeklagt worden. Die Richter verurteilten ihn zu lebenslanger Haft und Aberkennung der Staatsbürgerschaft. Zuvor hatte es Prozesse in der Sowjetunion und vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg geben. Trotzdem aber blieben zahlreiche der verantwortlichen Ärzte und Pfleger unbehelligt. Wie viele psychisch kranke Menschen in Mogiljow starben, lässt sich nicht mehr genau feststellen. Das Mahnmal nennt die Zahl von 1.200 Opfern. Es war das erste Denkmal auf dem Gebiet der Sowjetunion, das der Opfer der „Euthanasie“ gedenkt.
Fotos: K. Janeke